Modestadt Berlin
Als der Potsdamer Platz noch nach Paris aussah
Ein eisiger Wind fegt durch die Gebäudeschluchten am Potsdamer Platz. Der Spruch, dass jeder große Architekt in Berlin sein hässlichstes Haus baut, ist nirgendwo so wahr wie hier. „Der Potsdamer Platz ist heute ein Unort“, sagt Gesa Kessemeier. „Es ist kaum noch vorstellbar, dass hier vor hundert Jahren das Zentrum für Kunst und Mode in Berlin war.“
Die Historikerin erforscht im Rahmen des Projekts „Kunstgeschichte(n) des Tiergartenviertels“ die modische Vergangenheit der Stadt. Viele kennen das „Denkzeichen Modezentrum Hausvogteiplatz“, eine Skulptur aus drei spiegelnden Stahlplatten am östlichen U-Bahn-Ausgang. „Dabei saß am Hausvogteiplatz nur der textile Großhandel“, erklärt Gesa Kessemeier. Mode gemacht wurde dagegen im Tiergartenviertel rund um den Potsdamer Platz. Das Café, in dem wir uns verabredet haben, liegt im Erdgeschoss eines der vielen Neubauten, die hier um die Jahrtausendwende hochgezogen wurden. Das waren aufregenden Zeiten in Berlin: die Baukran-Jahre.
Wegen des unwirtlichen Wetters, im Volksmund „Russenpeitsche“ genannt, haben wir uns gegen einen Spaziergang entschieden. „Eigentlich“, so Gesa Kessemeier, „gibt es sowieso nichts mehr zu sehen. Die ehemaligen Modeorte Berlins sind fast alle verschwunden.“ Stattdessen holt sie historische Stadtpläne hervor. „Alleine hier im Lenné-Dreieck, befanden sich in den zwanziger Jahren 17 Couture-Salons“. Sie erzählt von exklusiven Modellhäusern, prächtig ausgestattet mit Stuck, Seidentapeten und Kronleuchtern, in denen eine kunstsinnige Kundschaft sich die neuesten Entwürfe auf den Leib schneidern ließ. Von Modeschöpferinnen, die einen ganz eigenen, modernen Stil prägten und denen es eine Zeitlang fast gelang, der Modestadt Paris ernsthaft Konkurrenz zu machen.
Die weitgehende Zerstörung Berlins und die folgende topografische Umgestaltung der Stadt sind nur zwei der Schwierigkeiten, mit denen Gesa Kessemeier bei ihrer Forschungsarbeit zu kämpfen hat. Es gibt bislang kein Archiv, dass die Arbeit der Berliner Modeschaffenden der Weimarer Republik systematisch dokumentiert. „Es ist eine Detektivarbeit“, sagt Gesa Kessemeier, “ich muss in historischen Adressbüchern, Zeitungen und Zeitschriften nach kleinsten Informationsschnipseln suchen.“ Auch in den Akten der Entschädigungsbehörde des Landes Berlin wurde sie fündig, wo die Angehörigen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung bis 1969 Anträge auf die Rückgabe enteigneter Besitztümer stellen konnten.
Auf den Fotos, die Gesa Kessemeier zeigt, sind elegant geschwungene Häuserfronten zu sehen, an denen in großen goldenen Lettern Namen prangen: Johanna Marbach, Regina Friedländer oder Clara Schulz. Wie kann es ein, dass wir diese Namen heute nicht mehr kennen? „Niemand kann eine Berliner Designerin der 1920er-Jahre nennen“, sagt Gesa Kessemeier, „aber Coco Chanel kennen alle.“ Frankreich hat eine andere Geschichte als Deutschland, eine andere Erinnerungskultur. „Die Modeschaffenden, die hier arbeiteten, wurden nach 1933 beraubt, auf das Schlimmste verfolgt und danach bewusst dem Vergessen übergeben.“
Dabei machte die Berliner Mode einst auch international Furore. Als Marlene Dietrich 1930 das erste Mal in die USA reiste, hatte sie Hosenanzüge des Modellhauses Becker im Gepäck, das in einem eigenen Modepalais in der Tiergartenstraße residierte. Gesa Kessemeier weiß das, weil sie im Marlene-Dietrich-Nachlass in der deutschen Kinemathek die Quittungen über 23.000 Reichsmark fand. Das luxuriösen Couture-Atelier wurde von dem Ehepaar Max und Erna Becker betrieben. „Damals war es üblich, dass Geschäfte den Namen des Mannes trugen,“ erklärt Gesa Kessemeier, „aber das kreative Genie war eigentlich Erna Becker.“ Die berühmten Hosenanzüge, die sie für Marlene Dietrich entwarf, bilden einen Schlüssel zum Verständnis des Berliner Stils. „Eine gewisse Strenge in der Linienführung“, zeichne diesem laut Gesa Kessemeier aus. „Reduktion und eine Eleganz der Einfachheit, wie man sie später auch bei Jil Sander fand.“
Die Berliner Modeszene war damals selbstbewusst genug, Paris etwas Eigenes entgegenzusetzen. Der Verband deutscher Modeindustrie gründet sich aus dem deutschen Werkbund und war stark von dessen Ideen geprägt: Neue Sachlichkeit, eine klare und funktionale Formgebung, die Verbindung von Kunst, Handwerk und Industrie. Aber Innovation. Gesa Kessemeier zeigt ein Couture-Kleid von Clara Schulz, dass die Modejournalistin Julie Elias 1923 als „Perlmutter-Pailletten, zusammengeheftet mit Stahlringen aneinandergeheftet“ beschrieben hatte. „Das sieht doch aus wie von Paco Rabanne!“
Dass Berlin heute noch das Zeug dazu hat, den großen europäischen Modezentren den Rang abzulaufen, würde viele bezweifeln. Allein der immer noch unglücklich frühe Termin der Berliner Fashion Week, ausgerechnet zur grausten Zeit des für seine Gräue berüchtigten Berliner Winters, beweist schließlich jedes Jahr aufs Neue, dass Berlin im internationalen Modekalender nur eine Nebenrolle spielt. Der internationale Fokus liegt auf London, Mailand und Paris, wo die neuen Kollektionen erst ein paar Wochen später gezeigt werden.
Wenn eines heute noch genauso wahr ist, wie vor hundert Jahren, dann das: Mode kann nicht in einem Vakuum existieren. Aber Modehäuser brauchen ein nahrhaftes Umfeld, um gedeihen zu können. Das ehemalige Tiergartenviertel, das Gesa Kessemeier aus tausend kleinsten Puzzleteile zu rekonstruieren versucht, war nicht nur ein elegantes Geschäfts-, sondern auch ein aufregendes Wohnviertel. Hier kamen Künstlerinnen, Kunstsammler, Filmstars und Intellektuelle zusammen. Die Mode war selbstverständlich mit dabei, als wichtiger Teil des visuellen Diskurses. Gesa Kessemeier erzählt anschaulich und bildhaft. Wenn sie redet und dabei alte Fotos und Zeitungsausschnitte zeigt, fühlt es sich an, als lege das alte Berlin sich für einen kurzen Moment über das gegenwärtige, als könne man sich noch ein bisschen an dem vergangenen Glanz wärmen.
„Berlin hat sich seiner eigenen Talente beraubt“, beklagt sie. Talente wie Joe Strassner, der in Berlin elegante Abendkleider mit Cut-Outs entwarf, wie man sie heute wieder auf allen roten Teppichen sieht. Noch vor der Machtergreifung ging Strassner nach Hollywood, wo er Stars wie Lilian Harvey und Anna Mae Wong einkleidete, später emigrierte er nach London, wo er als Kostümbildner mit Alfred Hitchcock zusammenarbeitete. Anderen erging es weitaus schlechter, die einflussreiche Modejournalistin Julie Elias starb 1943 im Exil in Norwegen, ihr Sohn Ludwig wurde nach Ausschwitz deportiert und ermordet. Ebenso wie Joe Strassners Bruder Alfred.
Die Bezeichnung „jüdische Modehäuser“ findet Gesa Kessemeier irreführend. Sie sagt: „Man muss aufpassen, dass man sich nicht das Denken der Täter zu eigen macht.“ Die Modesalons waren multinationale, multiethnische und multireligiöse Betriebe, deren Weltoffenheit und demokratische Ausrichtung den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge waren. Der Verband deutscher Modeindustrie wurde aufgelöst und durch das deutsche Modeamt ersetzt, dass fortan versuchte, regimekonforme Modeschaffende zu fördern. „Sie drängen die Begabtesten aus der Mode und glaubten, sie ersetzen können“, formuliert es Gesa Kessemeier. Der Versuch misslang gründlich. Ein Ort, an dem die Mode blüht, lässt sich nicht am Reißbrett entwerfen, er muss wachsen.
Immer noch schmiegt sich die Lennéstraße südlich an den Tiergarten und bildet zusammen mit Bellevuestraße und Ebertstraße ein Dreieck, an dessen südlicher Spitze heute ein Kubus aus Glas und Stahl den Zugang zum ebenfalls zugigen und düsteren Bahnhof Potsdamer Platz bewacht. Aber wohnen tut hier niemand mehr, die Infrastruktur richtet sich an Durchreisende: ein Luxus-Hotel, ein Hot-Dog-laden, ein indisches Restaurant. Von Mode keine Spur, es sei denn, man möchte die Filialen der Fast-Fashion-Ketten im nahegelegenen Einkaufzentrum dazuzählen.
Beheimatet ist das Forschungsprojekt „Kunstgeschichte(n) des Tiergartenviertels“ in der Kunstbibliothek, die nur wenige Schritte entfernt Richtung Landwehrkanal im Kulturforum liegt. Nach dem Krieg sollte hier das neue kulturelle Zentrum von West-Berlin entstehen. Das moderne Gebäudeensemble, das neben der Kunstbibliothek auch die Gemäldegalerie und das Kupferstichkabinett beherbergt, wurde Ende der Neunziger Jahre fertig gestellt. Das weitläufige, abfallend gestufte Areal davor ist heute bei Skatern beliebt. In den warmen Monaten beleben sie den Platz und verströmen ein angenehm urbanes Flair. Jetzt im Januar herrscht allerdings auch hier tristes Sibirien-Feeling.
Ähnliches ließe sich in diesen Tagen auch über die kulturelle Szene der Stadt sagen. Von den schmerzhaften Kürzungen des Kulturetats ist die Berliner Fashion Week nicht betroffen. Das Geld, mit dem spektakuläre Runway Shows ausgerichtet und internationale Gäste in die Stadt geholt werden, kommt von der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe. „Typisch“, sagt Gesa Kessemeier, „in Frankreich ist Mode Kultur, in Deutschland Wirtschaft.“
Momentan ist das ein klarer Vorteil. Senatorin Franziska Giffey und Staatsekretär Michael Biel investieren viel, um Berlin als Modestandort konkurrenzfähig zu machen. Aber ohne die Kultur kann die Rechnung nicht aufgehen. Das international gefeierte Label Namilia, eines der Zugpferde der Berlin Fashion Week, wurde von fünf Alumni der Universität der Künste gegründet. Eine weitere Absolventin, Kasia Kucharska, zeigt am 2. Februar erstmal eine eigene Kollektion bei der Berlin Fashion Week. Im November wurden der Hochschule einschneidende Kürzungen mitgeteilt. UdK-Präsident Norbert Palz sprach im Interview mit Radio Eins von einer „dramatischen Situation“, die eine „direkte Verringerung der Lehrqualität“ zur Folge habe. Dazu kommt, dass viele Modeschaffende Zweit- und Drittjobs im Kulturbereich haben, die nun ebenfalls webbrechen könnten.
Doch zurück zum Potsdamer Platz, wo die Glaskuppel des Sony-Centers wenigstens etwas Schutz vor dem schneidenden Wind bietet. Versteckt im östlichen Zipfel der Plaza liegen die Überreste das ehemalige Grand Hotel Esplanade. „Das Esplanade ist einer der ganz wenigen historischen Berliner Modeorte, die noch erhalten geblieben sind“, sagt Gesa Kessemeier. Ein Zeitungsartikel aus dem Dezember 1921 berichtet, dass hier mit großem Aufwand eine „moderne Modefigurine“ des Bildhauer Rudolf Belling der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Ein Stück der puderblauen, stuckverzierte Wand des ehemaligen Esplanade-Speisesaals wurde in die moderne Architektur des Centers integriert. Von außen kann man sie hinter Glas bestaunen wie einen seltenen Schmetterling. Im Inneren befindet sich heute das Restaurant „Fredericks“, das auf geschmackvolles Art-Deco-Ambiente mit wohlplatzierten Popart-Einsprengseln setzt.
Gesa Kessemeiers Blick fällt auf die weiße Marmortreppe in der Mitte des Raums: „Da ist sie ja!“, ruft sie begeistert aus. Genau hier auf dieser Treppe standen einst Vorführdamen, die die neuesten Entwürfe der Berliner Häuser zeigten. Sogar die blutjunge Marlene Dietrich war dabei. Die Marmortreppe war in den zwanziger Jahren Teil der neuen Festhalle, wo im Grand Hotel Esplanade rauschende Partys gefeiert wurden und der sich heute zwei Treppen über dem Restaurant befindet. Während der Baumaßnahmen, die Teile des historischen Hotels konservieren sollten, wurde der hintere Teil des Saals transloziert, also im Ganzen um etwa 80 Meter verschoben. Dabei ging leider der große Spiegel über dem Kamin zu Bruch. Darunter kam zum Vorschein: Ein Ganzkörperporträt von Wilhelm Zwo mit strengem Blick. Seitdem heißt die immer noch prachtvolle Halle Kaisersaal.
Enteignet, zerbombt, zugebaut, wieder freigelegt, kostspielig restauriert, transloziert und auf einen anderen Platz gestellt: Vielleicht kann die Beschaffenheit des Unorts Potsdamer Platz doch dabei helfen, die Geschichte der Modestadt Berlin besser zu verstehen. Das Berlin Talent hat, würde wohl niemand bezweifeln. Die Zukunft wird zeigen, ob die Stadt ihnen auch weiterhin ein fruchtbares Umfeld bieten kann. Dafür, dass die Stadt ihre eigene Geschichte nicht vergisst, sorgt Gesa Kessemeier. Im Sommer erscheint ihr Buch „Modestadt Berlin – Geschichte der Berliner Konfektion und Modesalons 1836-1936“.