Mode, Migration & Jugendkulturen

In bester Parallelgesellschaft

Die Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln: Fünf Kilometer schmutzige Urbanität. Menschengewusel, Autos, blinkende Neonreklamen. Aus einer Shisha-Bar, deren Fußboden mit ausgespuckten Kürbiskernschalen übersäht ist, dröhnt arabische Popmusik. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite befindet sich ein minimalistisch gehaltener Imbiss, der veganes Fast-Food verkauft.

Vor beiden Lokalen stehen junge Männer, die rauchend in die Sonnenstrahlen blinzeln. Sie tragen kurz geschorene Haare, klobige High-Tech-Sneaker, Jogginghosen, weiße Sportsocken, Sweatshirts mit Logo-Print, darüber dünne Silberketten und Bomberjacken.

Trotz auf den ersten Blick paralleler ästhetischer Vorlieben, verläuft zwischen beiden Gruppen eine auf den zweiten Blick deutlich hervortretende, ethnisch-ökonomische Demarkationslinie: Die Shisha-Bar wird vornehmlich von (relativ) armen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund besucht, von denen die Meisten im Viertel aufgewachsen sind. Das Angebot des veganen Schnellrestaurants richtet sich dagegen an (relativ) reiche Westeuropäer und Nordamerikaner, die den Bezirk erst vor wenigen Jahren für sich entdeckt haben.

Diese junge, globalistisch geprägte Künstlerbohème findet nicht nur Gefallen an der vermeintlichen Authentizität des sozialen Brennpunkts Neukölln, sondern auch an Stil und Habitus seiner das Straßenbild prägenden Figuren. Sie übernehmen deren Vorliebe für bestimmte Marken und Silhouetten, imitieren ihre Art zu gehen und nennen sich gegenseitig scherzhaft „Brudi“ – in Anlehnung an den türkischstämmigen Rapper Haftbefehl.

Die Aneignung subkultureller Stilcodes, zunächst durch die Avantgarde und anschließend durch den Mainstream, ist nichts Neues. Indie-, Punk- oder Gothic-Zitate gehören seit Jahrzenten zum festen Repertoire des Systems Mode. Das Ringen um immer neue Konsumangebote lässt Trendscouts und Designer noch in den abgelegensten Winkeln nach unverbrauchten Styles fahnden, um diese unverhohlen abzukupfern. Jugendkulturen haben kein Copyright. Im Licht aktueller Diskurse zu Integration, Identität und sozialer Ungleichheit wirft der Modehype um die Selbstdarstellungstechniken migrantischer Jugendlicher jedoch in verschärfter Weise ethische und politische Fragen auf.

Stil als kulturelle Kriegsführung

In Forschung und Mythos gibt es zwei divergierende Auffassungen vom Wesen der Mode: Während die einen sie als diejenige kulturelle Praxis loben, die am schnellsten und pointiertesten auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagiert, schmähen die anderen sie als unstetes, nimmersattes Krakenungetüm, dass nicht rastet, bevor es noch der letzten relevanten Lebensäußerung die Kraft ausgesaugt hat.

Anhand der Kommerzialisierung jugendkultureller Stilpraktiken seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts lassen sich beide Aspekte der Mode aufzeigen. In positivem Sinne ist die Verbreitung radikaler Ästhetiken ein Ausdruck steigender gesellschaftlicher Liberalität und Diversität. Als der britische Designer Paul Smith Anfang der 1980er Jahre den Herrenanzug revolutionierte, ließ er sich dafür von der lässigen, hedonistischen Haltung der britischen Mods inspirieren. Seine Modelle trafen den Zeitgeist und können als Versinnbildlichung der steigenden Durchlässigkeit von Klassengrenzen, der Aufweichung konservativer Geschlechterbilder und der zunehmenden Vermischung der Bereiche Arbeit und Freizeit in dieser Dekade gelesen werden.

Auf der anderen Seite dient die allgemeine Verbreitung subkultureller Stilelemente immer auch deren Entschärfung als Instrumente gesellschaftlicher Kritik. Der Medientheoretiker Dick Hebdige beschreibt am Beispiel Punk die Verwandlung subkultureller Zeichen in Konsumobjekte als einen Akt der ideologischen Vereinnahmung. Indem die Mainstream-Mode „ehemals abweichende Regelbrecher als unterhaltsames Schauspiel“ vorführt, wird ihr Prostest zu einer inhaltslosen Pose gemacht.

Die produktive Selbst-Inszenierung spielt in allen jugendkulturellen Bewegungen eine zentrale Rolle. Für migrantische Jugendliche hat der Entwurf und die Darstellung einer selbstbestimmten Identität jedoch besondere Bedeutung, da diese nicht nur um Abgrenzung vom Elternhaus bemüht sind, sondern zudem in ihrem Alltag häufig mit Stigmatisierung und Diskriminierung konfrontiert werden. Ästhetik, Stil und Zeichen ermöglichen es, sich als Teil einer – realen oder imaginierten – Gruppe zu definieren und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zu produzieren. Bei allem Spielerischem, dass der Mode als Kommunikationsmedium anhaftet, ist das ein politischer Prozess.

Vom Ghetto zur Psychogeografie

Fremdheit, so schrieb der Philosoph und Soziologe Georg Simmel bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, ist keine Eigenschaft von Menschen oder Dingen, sondern eine Eigenschaft, die innerhalb sozialer Beziehungen zugewiesen wird.

Die Kulturanthropologin Levent Soysal bemerkt, dass migrantische Jugendliche weniger der Kultur ihrer Herkunftsländer geprägt seien, als von der Erfahrung der Transnationalität.

Wer sich nirgendwo richtig akzeptiert fühlt, muss sich nicht mühsam von der Gesellschaft abgrenzen. Die Herausforderung besteht vielmehr in der Konturierung und aktiven Beanspruchung selbstbestimmter urbaner Identitäten, die den eigenen sozialen Erfahrungen eine Form verleihen.

Auf der Suche nach positiv besetzten Identifikationsvorbildern bietet insbesondere die US-amerikanische HipHop-Kultur ein reichhaltiges Arsenal interessanter Figuren. Anders als Punk, der die gesellschaftliche Randposition glorifiziert, stellt HipHop eine Kultur der ethnisch unfreiwillig Ausgegrenzten dar. Die Subkulturforscherin Kaya Verda schreibt, dass migrantische Jugendlichen sich die in der Punk-Szene übliche Kokettierung mit Armut „als symbolische Verlierergeste“ nicht erlauben können. Stattdessen fühlen Sie sich von Stereotypen wie Gangstern, Playern oder Hustern angesprochen, die Stärke ausstrahlen und mit teuren Statussymbolen wie Markenkleidung und Schmuck glänzen.

Neukölln ist nicht Harlem. Man könnte argumentieren, dass die Selbstidentifikation westeuropäischer Migrantenkinder mit afroamerikanischen Ghetto-Kids selbst eine Form der unrechtmäßigen kulturellen Aneignung darstellt. Der Soziologie Geoge Lipsitz ist jedoch der Meinung, dass eine Übernahme bereits vorgefertigter kultureller Bilder als Selbstermächtigungsgeste verstanden werden muss, wenn es sich bei den Akteuren selbst um eine marginalisierte Gruppe handelt. HipHop und insbesondere die Männlichkeit und Aggressivität verherrlichende Ikonografie des Gangster-Raps bieten migrantischen Jugendlichen die Möglichkeit, „mehr zu sein“ als das, was ihnen von der Gesellschaft zugestanden wird.

Der Kulturanthropologe Arjun Appadurai schlägt vor, die Klassifizierung ästhetischer Phänomene nach Herkunft oder Nationalstaatlichkeit durch transnationale kulturelle Felder wie „Ethnoscpaes“, „Mediascapes“, „Technoscpaes“ und „Ideoscapes“ zu ersetzen. Die Verwendung spezifischer Zeichenrepertoires bietet marginalisierten Jugendlichen die Möglichkeit, sich nicht nur als Mitglieder einer globalen Stilgemeinschaft, sondern als Teil einer globalen Kultur zu markieren.

Die selbststigmatisierende Übernahme von Fremdzuschreibungen ist dabei eine Technik der kulturellen Notwehr: Wenn der Rapper Bushido sich selbst als „Prototyp, Nemesis, Araber, Taliban“ bezeichnet, spielt er geschickt mit potentieller Gefährlichkeit und nimmt gleichzeitig bürgerliche Ängste auf Korn. Deutsche „Kanaken“, britische „Chavs“, französische „Racailles“ oder osteuropäische „Gopniki“ stellen lokale Variationen desselben Grundtypus dar: Perspektivlose Jugendliche, die von der breiten Öffentlichkeit bestenfalls als halbstarke Kleinkriminelle wahrgenommen werden. Durch Ästhetisierung und Stil schaffen sie sich eigene kulturell produktive Handlungsräume, die ihrem Wunsch nach Teilhabe und Bedeutung Ausdruck verleihen.

Urlaub in der Unterschicht

Die Sichtbarkeit auffälliger oder andersartiger Jugendlicher im Straßenbild wird von Mitgliedern der Mainstream-Kultur oftmals als verstörend oder sogar bedrohlich empfunden. Folgt man Hebdiges Argumentationsweise, hat die Gesellschaft ein Interesse daran, das Irritationspotenzial dieser Regelbrecher zu nivellieren, indem sie ihnen den Platz von Witzfiguren zuweist. Häufig kommen dabei schichtspezifische, rassistische oder pathologisierende Ausgrenzungsmuster zum Einsatz. Wie der Popkultur-Forscher Moritz Ege beschreibt, wird das Konsumverhalten statusorientierter Jugendlicher, die Vorliebe für Markenkleidung mit auffälligen Logos, das Tragen von Ketten und Brillantohrringen, das Protzen mit den neuesten technischen Geräten, oftmals als „unsinniges Verhalten“ abgelehnt. Gängige Verunglimpfungen der eingangs beschriebenen Bekleidungspraxis als „Proll-“, „Asi-“ oder schlicht „Türkenstyle“ zeigen den be- und entwertenden Charakter solcher Kategorisierungen.

Problematisch wird es dann, wenn diese Codes als ironischer „Mode-Gag“ von Personen aufgegriffen werden, deren Lebenskontexte, Erfahrungen und Anliegen ganz andere sind. Der Modejournalist Aleks Eror beschreibt das treffend als „Klassen-Tourismus“: Eine zynische Fetischisierung von Armut durch wohlhabende Westeuropäer, die das Privileg besitzen, diese Rolle wieder abzulegen, wenn sie nicht mehr so cool ist. Er fragt sich, wann der erste Designer die orangefarbenen Schwimmwesten der nordafrikanischen Bootsflüchtlinge als provokatives Fashion-Statement auf dem Laufsteg zeigen wird.

Der vor allem im englischsprachigen Raum geführte Diskurs um Cultural Appropriation, bewertet die Übernahme kultureller Praktiken sozial marginalisierter Gruppen durch „privilegierte“ Mitglieder der weißen Dominanzkultur als Ausdruck von hegemonialer Macht, der eher an der Festschreibung denn an der Auflösung sozialer Ungleichheiten diene.

Dass diese Diskussion in Deutschland (noch) nicht mit derselben Vehemenz geführt wird, zeigt auch die immer noch vorherrschende Zurückhaltung, migrantisch geprägte, urbane Kulturen als bedeutungsvoll anzuerkennen.

In der Zwischenzeit, geht der Verdrängungskampf auf der Neuköllner Sonnenallee weiter. Eine 2-Zimmer-Altbauwohnung kostet hier mittlerweile 1.000 Euro Miete. Wenn die Gäste der Shisha-Bar die elterlichen Wohnungen verlassen wollen, müssen sie in ein anderes Viertel ziehen. Ihre modischen Doubles auf der anderen Straßenseite werden dem Kiez wohl in ebenfalls ein paar Jahren aufgrund „zu kommerziell“ angeekelt den Rücken kehren – auf der Suche nach der nächsten Bastion vermeintlich authentischen Lebens.

 

Blumhardt, Olga/Drinkuth, Antje (Hg.): Traces. Fashion & Migration, Berlin 2017

 

Literatur:

 Appadurai, Arjun: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, in: Featherstone, Mike (Hg.): Theory, Culture& Society, Ausgabe 7, London 1990

Ege, Moritz: Ein Proll mit Klasse. Mode, Popkultur und soziale Ungleichheit unter jungen Männern in Berlin, Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York 2013

Eror, Aleks: Is Post-Soviet Fashion Ethically problematic?  [URL: highsnobiety.com/2017/02/01/post-soviet-fashion-trend, zuletzt abgerufen am 16.2.2017]

Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style, Routledge, London 1979

Lipsitz, George: Dangerous Crossroads. Popular Music, Postmodernism and the Poetics of Place, Verso, London/New York 1994

Soysal, Levent: Diversity of Experience, Experience of Diversity. Turkish Migrant Youth Culture in Berlin, New York 2001

Verda, Kaya: HipHop zwischen Istanbul und Berlin. Eine (deutsch-)türkische Jugendkultur
im lokalen und transnationalen Beziehungsgeflecht, Bielefeld 2015