Mode & Lockdown
Die Hölle c'est Moi
Phase Eins: Inventur. In jenen ersten, stillen Wochen nach Beginn der Pandemie, als der kollektive Seelenzustand noch zwischen Schock und Hoffnung auf ein rasches Ende schwankte, herrschte der unbedingte Wille vor, diesem neuen Zustand etwas Positives abzuringen. Als der mögliche Erlebnisraum plötzlich an den Innenwänden der Wohnung endete, erklärte man diese kurzerhand zur Optimierungszone. Das große Ausmisten begann. Oder besser: Decluttering.
Minimalismus draußen gleich Minimalismus drinnen lautete die Parole. Wie wir es von der kleinen Frau mit dem akkuraten Pagenschnitt auf Netflix gelernt hatten, fragten wir uns artig bei jedem die Wohnung vollrümpelnden Stück, ob es denn tief in unserem Inneren Freude entfache. Does it spark joy?
Auf die anfängliche Erleichterung, eine sinnvolle Tätigkeit gefunden zu haben, folgte bald Ermüdung, dann Verzweiflung. Denn jedes Mal lautete die Antwort: Nein. Nein zum olivgrünen Nagellack mit mattem Finish, nein zur Blumenvase in Goldfischform, nein zur Handyhülle im Retro-Look. Waren wir denn vollkommen verrückt gewesen, uns all diesen Krempel in die Wohnung zu schleppen und dafür auch noch Geld zu bezahlen?
Fast wollten wir aufgeben. Schworen, nie wieder etwas zu kaufen. Überlegten, wie viele H&M-Kleider es wohl braucht, um sich daraus ein Zelt zu nähen, das man erst dann wieder verlassen würde, wenn die Welt sich auf wundersame Weise eingerenkt hätte.
Bis es dann passierte: beim Vordringen in die tiefsten, finstersten Schrankschichten kamen sie auf einmal doch noch zutage, die Dinge, die Freude entfachten. Alte Fotos, alte Tagebücher, alte Briefe. Poesiealben, in denen unter der Rubrik „Hobbies“ Seite um Seite in rührender Einfalt gekrakelt stand: Fahrradfahren, Schwimmen, Lesen. Keine Dinge, deren Oberflächenbeschaffenheit unserem Ego schmeichelte, sondern Zeugnisse unserer Beziehungen zu anderen Menschen.
Und damit begann die zweite Phase: Regression. Die Gegenwart fühlte sich an wie aus Watte, die Zukunft machte Angst. Der einzig wirklich sichere Ort war die Vergangenheit. Auf einmal verspürte man Sehnsucht nach denen, die ein Stück des eigenen Weges mit einem geteilt hatten. Menschen, mit denen wir gelacht, gesoffen und gestritten hatten. Man meldete sich bei alten Freunden und schwelgte im gemeinsam Erlebten. Auf den sozialen Netzwerken trendeten Hashtags wie #TBT (Throwback Thursday), unter denen Kinder- und Jugendfotos gepostet wurden. Nicht wenige verloren jetzt die Nerven und eilten aus den Großstädten zurück in die Provinz. Risikogruppe hin, Reisewarnung her: Katastrophen sitzt man am besten bei der eigenen Familie aus. Bei Menschen, die einen zwar vielleicht nicht verstehen, aber doch besser kennen als jeder andere.
Phase drei: Verpuppung. Endstation Kinderzimmer. Auch bei den Zurückgebliebenen versandete der anfängliche Aktionismus und machten einem phlegmatischen Stubenarrest-Feeling Platz. Jogginganzug all day every day. Wir schlüpften in einen Kokon aus innen angerautem Sweatstoff und fuhren alle Vitalfunktionen auf ein Minimum hinunter. Aber genau wie bei einer Insektenpuppe passierten jetzt Dinge, die man von außen nicht sehen konnte. Alles, was uns vorher ausgemacht hatte, war weggebrochen, nur wir waren komischerweise immer noch da. Ein bisschen ärmer als vorher, ein bisschen schwammiger um die Hüften, mit grauen Haaren, die jetzt niemand mehr für Geld vor unseren eigenen Blicken versteckte. Und das, was es irgendwie OK machte, da so völlig aus dem Leim gegangen rumzuliegen und nicht zu wissen, wann man das nächste Mal eine Kunstausstellung oder ein Konzert besuchen würde, war, dass es allen anderen auch so ging. Gleichheit war Trost.
Diese Erkenntnis musste erstmal sacken. Schließlich hatten wir bis vor Kurzen erhebliche Mittel dafür aufgewandt, um alles zu sein, bloss nicht so wie alle anderen. Eben individuell. So schälten wir uns mit den ersten Lockerungen und den ersten wärmeren Tagen langsam aus unserer Lethargie heraus und traten ein in Phase fünf: Bilanzierung. Wir fragten uns, was das eigentlich für eine Individualität sein soll, die soviel Kraft und Geld kostet und letztendlich aus nicht viel mehr als ein paar Geschmacksnuancen besteht? Aus lauter Dingen, die uns keinen Deut geholfen hatten, als wir uns verunsichert und alleine fühlten? Bei dieser Bilanzierung half, in die Geschichte zurück zu blicken.
In vormodernen Zeiten war es noch ganz selbstverständlich, dass das, was einen Menschen ausmacht, nicht seine persönlichen Vorlieben und sein Geschmack waren, sondern seine Bindungen an andere: Familie, Beruf, Religion, regionale Herkunft. Seit der Aufklärung ist in den westlichen Gesellschaften die Bedeutung, die Menschen ihrer Individualität beimessen, ständig gewachsen. Im Jahr 1774 schuf Goethe mit dem Werther die wohl erste massentaugliche Individualitäts-Ikone: ein weinerlicher Lappen, der dauernd über seine eigenen Empfindungen lamentiert und beleidigt ist, weil keiner sich dafür interessiert. Jede Regel, jede Konvention erscheint ihm unerträglich. Soweit, so relatable. Aber Werther weist noch einen weiteren Charakterzug auf, der für den modernen Individualismus kennzeichnend ist. Denn bei all den deepen Gedanken, die er tagtäglich wälzt, bleibt noch viel Platz für die Selbstperformance. In seinen Briefen beschreibt Werther sein Lieblingsoutfit häufig und detailliert und es scheint ihm eine diebische Freude zu bereiten, darin bei der von ihm verachteten Mehrheitsgesellschaft anzuecken.
Die sogenannte Werther-Tracht aus blauem Gehrock, gelber Weste und Stulpenstiefeln wurde in Folge zur ersten revolutionären Jugendmode Deutschlands und zeigte zugleich schon das, was sich heute als Individualitäts-Paradox voll entfaltet: die Bemühungen, das höchsteigene Selbst vor Publikum möglichst dramatisch auszuleben, erschaffen in letzter Konsequenz ein Heer gejagter Individualitäts-Klone. Dazu passt, dass es seit dem 19. Jahrhundert vor allem die Massenkultur war, die versprach, jedem Menschen zu einem eigenen Selbst zu verhelfen und ihnen gleichzeitig die Mittel in die Hand drückte, dieses besondere So-Sein durch Konsum zu verwirklichen. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich beschreibt die Konsumkultur als „Fürsorgemaßnahme für das Individuum“.
Aber die Freiheit der Wahl bedingt auch den Zwang zur Entscheidung. Niemand verhält sich so zwanghaft wie der Individualist. Er giert nach Objekten, Gefühlen und Erlebnissen, die ihn und nur ihn umschmeicheln wie ein maßgeschneiderter Seidenkaftan. Denn nichts bringt das besondere Selbst so gut auf den Punkt wie das eigene Konsumverhalten. Oder? That’s so me, sagen wir, wenn uns ein Ding besonders gut gefällt. Und finden es überhaupt nicht merkwürdig, eine Einhorn-Tasse zur Essenz unseres Selbstseins zu erklären. Statt zu essen, was auf den Tisch kommt, stellt man sich die Bowl selbst zusammen. Und übersieht dabei, dass die Ekstase über das neueste Superfood eben nicht dem eigenen Innersten entspringt, sondern die Frucht zielgruppengenau zugeschnittener Marketingkampagnen ist.
Gute Dinge kommen manchmal in hässlichen Schachteln. Wer bis hierhin durchgehalten hatte, war jetzt im Normalfall sowieso zu pleite, um das angeschlagene Ego mit spontanen Luxuskäufen aufzupäppeln. Das war dann die letzte Phase: Stoizismus. Die Dinge ließen sich nun mal nicht ändern, zumindest nicht im Großen und Ganzen. Also hielten wir uns an die Kleinigkeiten. Waren einfach nur froh darüber, mit einem guten Freund auf derselben Parkbank sitzen und die Sonne auf der Haut spüren zu können. Wir waren ein bisschen stolz auf uns, weil wir gemerkt hatten, dass wir zäh waren. Wie Kakerlaken konnten wir uns bei Gefahr in dunkle Ecken verkriechen und kamen doch kurz darauf wie kleine Panzer wieder zurückgekrabbelt.
Wir brauchten viel weniger, als wir dachten und hielten viel mehr aus, als wir uns zugetraut hätten. Klar war leider auch: diese neuentdeckten Fähigkeiten, Genügsamkeit und Resilienz, würden wir in Zukunft noch brauchen. Schön, dass wir dann wissen werden: wir sind als Individuen nie alleine auf der Welt.
Fräulein 02/2020