Mini Me

Postdemokratische Körper: Plastische Chirurgie, Genetik, Trauma

Natürlich ist es Kim Kardashian, die für den aufregendsten Modemoment der letzten Monate sorgte. Natürlich in Balenciaga, dem Label, an dessen radikaler Ästhetik aktuell kein Weg vorbeiführt. Die Bezeichnung ›head-to-toe‹ beschreibt den Look, den Kardashian zur Met Gala im September 2021 trug, besonders treffend. Abgesehen von einer Aussparung am Oberkopf, durch die sich eine knielange Haarpeitsche fädelte, war jeder Quadratzentimeter ihres Körpers bis hinab zu den Schuhspitzen hauteng in opaken schwarzen Stoff eingenäht.

Kardashian, die eher dafür bekannt ist, zu viel Haut zu zeigen, brach mit dem Verdecken des Gesichts ein Tabu, nicht nur des Red-Carpet-Dressings. Im Diskurs um ein »Burkaverbot« wird auf der Pro-Seite häufig das Sentiment angeführt, die Vollverhüllung käme einer »Entmenschlichung« gleich (»Emma«). Die Netzsphäre empfand Kardashians Auftritt einfach als gruselig. In einem vielgeteilten Mem wurde ihr Look als »Schlaf-Paralyse-Dämonin« interpretiert. Dazu passt, dass die Stilbibel »Dazed & Confused« kürzlich ausrief, die Celebrity-Kultur sei in ein »neues verstörendes Reich des Unheimlichen« eingetreten. Neben einer Vorliebe für gruftimäßige Stylings, bei denen wiederum das Label Balenciaga federführend ist, zeichne sich diese Ära vor allem dadurch aus, dass die Nahbarkeit, welche das Verhältnis von Stars zu Masse im frühen Social-Media-Zeitalter prägte, einer neuen Distanziertheit zum Volke gewichen sei.

Nun ist die Met Gala nicht irgendein roter Teppich. Seit Jahren überbieten sich die Celebrities hier mit geradezu lächerlich extravaganten Looks. Trend-Kassandra Li Edekoort machte ihrem Unmut über diese Entwicklung bereits 2019 Luft. In einem ›Rant‹ auf der Design-Plattform »Dezeen« schrieb sie, die Zurschaustellung sinnloser Verschwendung käme einer demonstrativen Verachtung »normaler Menschen« gleich. Mit Grauen fühle sie sich an den Hof von Marie-Antoinette zurückversetzt, dem historisch letzten Aufbäumen eines vordemokratischen Körper- und Modeverständnisses.

Tatsächlich evozierten ikonische Met-Gala-Momente, wie Rihannas pelzverbrämte kanariengelbe Schleppe oder Jared Letos strassbesetzte Gucci-Robe, inklusive unter dem Arm getragener Nachbildung seines Kopfes, typische Elemente der Hofmode des Absolutismus.  Dabei wiegen Aufwand und Kosten der Kleidung schwerer als moderne Vorstellungen von Stil und Geschmack. Auch eignen sie sich keinesfalls dazu, durch Trickle-Down-Effekte nachgeahmt, in abgeschwächter Form Teil des modischen Kanons der mittleren bis unteren Schichten zu werden. Kim Kardashians Succubus-Look ging jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter. Nicht nur war ihr Outfit im Vergleich zu den vorhergenannten Beispielen von geradezu bestechender Schlichtheit, es diente auch nicht als Vehikel zur Vermehrung des eigenen Ruhms. Vielmehr war ihre Berühmtheit Vorbedingung für das Funktionieren des Looks. »The power of making yourself known by disguising yourself. Genius«, kommentierte etwa Modeblogger Bryan Boy. Und der Instagram-Accout »Diet Prada«, sonst für ätzende Kritik an den Outfits der Kardashian-Schwestern bekannt, musste Kims einzigartige Position im Celebrity-Kosmos anerkennen: »When you’re so famous you can literally make ›anonymous‹ your new lewk.«

Viel ließe sich an dieser Stelle über Kardashians Körper spekulieren, dessen Konturen unter dem hautengen schwarzen Stoff mit der Schärfe eines Schattenrisses hervortraten und der mit der schmalen Taille und den ausladenden Hüften wiederum formale Ähnlichkeiten zum Körperideal des Rokoko aufweist. Körpertheoretische Betrachtungen der weiblichen Physis im Spannungsfeld aus Inszenierung, Geld und Macht begreifen diese üblicherweise als Ergebnis aufstiegsorientierter Selbstoptimierungsarbeit. Daran könnte sich die Frage anschließen, wessen Produkt dieser Körper sei: des Plastischen Chirurgen Dr. Jason Diamond, des stilprägenden Einflusses ihres Bald-Ex-Mannes Kanye West, des Balenciaga-Masterminds Demna Gvasalia oder, im Sinne des postfeministischen Empowerment-Ansatzes, ihres höchsteigenen Willens?

Interessanter erscheint jedoch die Frage, ob die Prämissen der Kritik ›neoliberaler Idealkörper‹ den vollen Bedeutungshorizont von Kardashians Fame-Performance ausreichend erfassen oder ob an dieser Stelle ebenfalls eine neue und gestörte Ära des Unheimlichen ausgerufen werden muss. Das Versprechen der kosmetischen Industrie, jedes Mauerblümchen in ein Glamour-Geschöpf mit Starpotenzial zu transformieren, hat sich in dem Maße erschöpft, wie Beauty-Eingriffe alltäglich wurden. Die Wahrscheinlichkeit, einem Kardashian-Klon im Real Life zu begegnen, sind in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen. Das beweist jedoch nur, dass zwar erhebliche Ressourcen an Schmerz und Geld investiert wurden, der Erlös jedoch ausblieb.

Die Frühphase der Sozialen Medien mit ihren scheinbar unbegrenzten Aufstiegspotenzialen ist unwiederbringlich vorbei, die Aufmerksamkeits-Pfründe längst verteilt. Jetzt geht es um Machtsicherung. Die von »Dazed & Confused« attestierte neue demonstrative Unnahbarkeit der Stars beträfe damit auch die Qualität der dargebotenen Körper: vom demokratischen Selbstoptimierungsprojekt zum postdemokratischen Evidenzobjekt einer in unerreichbare Ferne gerückten Privilegierung.

Die Selbstverständlichkeit, mit der Machtansprüche auf die nächste Generation ausgeweitet werden, stützt diesen Paradigmenwechsel. Das dynastische Denken hat in die Celebrity-Kultur längst Einzug gehalten. Mit Kendall Jenner, Kaia Gerber sowie Gigi und Bella Hadid stammen vier der momentan bestbezahlten Models aus berühmten Familien und waren schon als Kinder bzw. Jugendliche in den Medien präsent. Ihr Erfolg ist damit weniger das Ergebnis aufstiegsorientierten Strebens als vielmehr von Vererbung.
In seiner Analyse vor-demokratischer Körperbilder »Ausdruck und Einbildung. Zur symbolischen Funktion des Körpers« schrieb Gunther Gebauer 1981, die Kinder der Adligen hätten die »angeborenen Fähigkeiten, hohe Funktionen zu erfüllen«, denn: »Ein neugeborener Körper ist von einer langen Geschichte vorgeformt.« Ähnliches trifft auch auf die Körper der Promi-Sprösslinge zu. Besonders Luxuslabels zeigen eine hohe Affinität, deren angeborenes Bedeutungspotenzial fest an den eigenen Markenkern zu koppeln. So warb im letzten Jahr Willow Smith für Thierry Mugler, Zoe Kravitz für Saint Laurent oder Lily-Rose Depp für Chanel.
Die Vererbung tatsächlich physischer Eigenschaften kann diesen Prozess stützen, ist aber nicht Vorbedingung für dessen Gelingen. Schönheit ist letztlich eine Kategorie, die den hohen Status der Abstammung bezeichnet. Ende 2020 debütierte Heidi Klums Tochter Leni auf dem Cover der deutschen »Vogue«. Während die Klatschpresse lobte, Leni habe die »Model-Gene der Mama geerbt« (»Bunte«), ätzten andere, die Juniorin sei »zu klein« und »zu gewöhnlich aussehend« um als Model ohne Stammbaum Karriere zu machen.
Nun, die Genetik ist sowieso aus der Mode gekommen. Gerade in Celebrity-Kreisen ist die biologische Abstammung des Nachwuchses dank reproduktiver Trends wie Eizellenspenden, In-Vitro-Befruchtungen, Leihmutterschaft sowie Adoptionen nicht immer lupenrein feststellbar. Als ultimativ verbindendes Element zwischen Familienmitgliedern gilt daher nicht länger eine geteilte DNA, sondern ein geteiltes, also transgenerationales Trauma.
In der Popkultur tauchte das Konzept zunächst in Horrorfilmen wie »Heredetary« (2018) oder Gruselserien wie »Sharp Objects« (2018) auf, wobei die Weitergabe des Traumas auffallend häufig von Müttern auf die Töchter erfolgte. Das Magzin »Vice« stellte damals fest: »Inherited family trauma is the new form of body horror.« Schon bald darauf folgte der »Literally My Life«-Trend auf der Social-Media-Plattform TikTok, dem (mit einigen Ausnahmen) wiederum überwiegend junge Frauen folgten. Zu dem gleichnamigen Bubblegum-Popsong der YouTuberin Eva Gutowski tanzten sie vor der Kamera. Gleichzeitig wurden kurze Textfragmente eingeblendet, die vergangene »traumatische« Erlebnisse, etwa im Zusammenhang mit der Scheidung oder dem Alkoholismus der Eltern schilderten. 2021 war das Thema mit dem Disney-Blockbuster »Encanto«, einem in den Bergen Kolumbiens angesiedeltem magischen Mehrfamiliendrama, in dessen Zentrum drei Schwestern stehen, endgültig im Mainstream angekommen.
Wie die transgenerationale Weitergabe von Traumata funktioniert, lässt sich in Celebrity-Reality-Formaten besonders gut beobachten – etwa wenn in »Real Housewifes of Beverly Hills« das Ex-Topmodel Jolanda Hadid ihre über Hunger und Schwächegefühl klagende Tochter Gigi dazu auffordert, eine einzige Mandel zu essen und »gut zu kauen«. So werden auch Techniken der Körpergestaltung vererbt, wobei Kalorienrestriktion nicht immer ausreicht, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Fans der Serie »Keeping Up With The Kardashians« konnten über Jahre mitverfolgen, wie Kims jüngste Schwester Kylie Jenner als hässliches Entlein der Familie zunächst von Komplexen geplagt wurde und schließlich, dank den Segen der modernen Ästhetisch-Plastischen Chirurgie zum #facegoal zahlloser junger Frauen weltweit aufstieg. Natürlich begab sich Kylie bei Dr. Diamond in Behandlung – wie bereits ihre Mutter und ihre Schwestern. Auch so entstehen Familienähnlichkeiten. Wie Daniel Hornuff 2018 in seiner Kolumne »Körperdesign und authentischer Mensch« (Heft 13 der »Pop«-Zeitschrift) schrieb, werden solche Eingriffe längst nicht mehr als ein künstliches Hinzufügen oder als eine Korrektur von Makeln begriffen, sondern der Körper »im Gegenteil durch künstlichen Eingriff auf seine natürliche Bestimmung zurückgeführt.« Im Falle von Kylie Jenner also auf den angemessenen Ausdruck ihrer angeborenen Bedeutung.
Schon wird der Staffelstab an die nächstjüngere Generation weitergegeben. Im Oktober 2019 trug Kylie Jenners damals nur 20 Monate alte Tochter Stormi zu Halloween ein tief ausgeschnittenes, federnbesetztes Kleid mit passender lavendelfarbener Perücke. Ihr Kostüm war dem Versace-Look nachempfunden, den die Mutter zuvor auf dem Roten Teppich der Met Gala getragen hatte. Der ›Mini Me‹-Trend, bei dem Mütter und Töchter (seltener Väter und Söhne) in den gleichen Outfits auftreten, ist ein weiterer Hinweis auf die Zunahme eines dynastischen Denkens, das die eigenen Kinder selbstverständlich als Erweiterung des eigenen Selbst begreift. Luxuslabels wie Gucci, Barbour oder Balenciaga gehen bei ihren Kinderlinien verstärkt dazu über, Runway-Looks der Damenkollektion im Miniaturformat nachzuschneidern, anstatt eigene ›kindgerechte‹ Designs zu entwickeln.
Man fühlt sich an Portraits adliger Kinder zur Zeit des Absolutismus erinnert, die, ausstaffiert wie ihre Eltern, als ›fehlerhafte‹ Erwachsene begriffen wurden und deren Wert als Individuen nicht von der Abstammung getrennt werden konnte. Auch Marie-Antoinette trug schon im Alter von sieben Jahren Korsett. So werden Körper für einen festen Platz im Blitzlicht vorgeformt, der für Außenstehende trotz aller ›neoliberaler Selbstoptimierungsarbeit‹ weder vorgesehen noch erreichbar ist.