Liebe & Wahn

Total durchgeknallt

Es begann, wie heute so oft, im Internet. Es endete damit, dass ich mutterseelenallein auf einem Bahnsteig in Brooklyn stand und auf die Rücklichter eines abfahrenden Zugs starrte.

Er war Musiker, lebte in New York und trug Vollbart, noch bevor das ein Klischee geworden war. Ich war Anfang Dreißig und hatte eine üble Trennung hinter mir. Wir hatten über drei Ecken gemeinsame Bekannte und irgendwann schrieb er mich an und fragte, ob ich Fotos von seiner Band machen wolle.

Eine Verwechslung, wie sich herausstellte. Schließlich war ich keine Fotografin und lebte außerdem gut 6.000 Kilometer entfernt in Berlin. Ich wollte jedoch nicht an Zufall glauben und sah stattdessen das Schicksal walten. Bald schrieben wir uns jede Nacht. Aufgrund des Zeitunterschieds hatte ich dunkle Ringe unter den Augen. Auf die Arbeit konnte ich mich sowieso nicht konzentrieren, weil ich den ganzen Tag lang an cleveren Formulierungen für meine nächsten Nachrichten feilte.

Nach ungefähr zwei Wochen begann ich, Hochzeitskleider zu googeln. Ich suchte nach Kindernamen, die sich gut in einer bilingualen Kita machen würden.

Ich spürte es: wir waren Seelenverwandte.

Zwei Königskinder. Und war das Wasser, das uns trennte, auch tief, so hatte ich doch wenigstens eine Kreditkarte und einen Plan.

Keine Sekunde zweifelte ich daran, dass ein unangekündigter transatlantischer Flug das probate Mittel sei, dem zarten Pflänzchen unserer Liebe den entscheidenden Nährstoff-Boost zu verpassen. Auf das daraus ein starker Baum wachsen möge, der wunderschöne Früchte trägt.

Man kann nicht sagen, dass er vor Begeisterung ausflippte, als ich durch die Tür der Bar trat, hinter deren Tresen in der er aufgrund seines berufsbedingten Kirchenmausdaseins gezwungen war zu arbeiten. Siegesgewiss nahm ich auf einem Barhocker Platz und bestellte einen Manhattan. Sechs Stunden und sieben Manhattans später saß ich immer noch dort und sah zu, wie er Gläser spülte und die letzten Gäste verabschiedete.

Er schlug einen Spaziergang vor. Tatsächlich sollten wir nur zwei Blocks bis zur nächsten U-Bahn-Station laufen. Kurz bevor er in den einfahrenden Zug sprang, eröffnete er mir, dass er jetzt leider nach Hause zu seiner Freundin müsse, mit der er seit drei Jahren zusammenlebte. Er bedauerte, nicht mehr Zeit zu haben. Er würde sich aber sehr freuen, mich kennengelernt zu haben. Nice to have met you. Präteritum.

Wer war der Schuft in dieser Geschichte und wer das arme Opfer? Obwohl die Begegnung mittlerweile über zehn Jahre zurückliegt, zieht sich in mir beim Gedanken daran noch immer alles vor Scham und Erniedrigung zusammen. Heute bin ich jedoch so weit zu sagen: mir seine Beziehung zu verschweigen, war wirklich nicht nett von ihm. Ich jedoch habe mich nicht nur wie eine Idiotin verhalten, sondern wie eine Verrückte.

Der Liebeswahn ist eine psychopathologische Denkstörung, die sich in einer krassen Falschbeurteilung der Wirklichkeit äußert

. Das Liebesobjekt ist dabei im Grunde austauschbar. Im Zentrums des Wahns steht die narzisstische Zwangsvorstellung eines perfekten Lebens, die um jeden Preis verteidigt werden muss.

Die Grenze zwischen schmeichelhafter Anstrengung und justiziabler Belästigung ist eine fließende. In der Popkultur kennt man Stalkerinnen entweder als sexbesessene Psychopathinnen, wie Glenn Close in Eine verhängnisvolle Affäre, oder als irgendwie ganz niedliche Knallverrückte, wie die Figur der Rose in der US-Sitcom Two And A Half Men.

Statistisch sind es meistens Männer, die Frauen nachstellen und bedrängen. Experten gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus, da weibliche Stalking-Fälle weitaus seltener zur Anzeige gebracht würden. Justiz und Gesellschaft glauben pauschal, dass Männer solche Situationen selbst in den Griff bekommen. Was kann schließlich so schlimm daran sein, wenn eine Frau sexuelles Interesse an einem Mann zum Ausdruck bringt?

Die typische Stalkerin ist single, weiß, heterosexuell und 37 Jahre alt. Während männliche Stalker am häufigsten in die Kategorie der Rejected Stalker fallen, die ihre Ex-Partnerinnen bestrafen und terrorisieren wollen, sind weibliche Stalker überwiegend Intimacy Seekers. Sie sind überzeugt davon, in ihrem Opfern die große Liebe erkannt zu haben, die lediglich noch etwas Überzeugungsarbeit benötigt.

Im echten Leben landen Stalkerinnen manchmal vor Gericht, wie kürzlich eine junge Frau mit herzzereißenden Bambi-Augen, die nun nicht länger behaupten darf, die wahre Freundin des Schauspielers Hardy Krüger Junior zu sein. In Interviews hatte sie vorher die Einschätzung vertreten, die mittlerweile dritte Eheschließung des Angebeteten sei lediglich ein billiges Vertuschungsmanöver, um seine tiefen Gefühle für sie vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Nicht wenige Frauen aus meinen Bekanntenkreis haben einen mindestens ebenso großen Dachschaden, wenn es um die realistische Beurteilung von Liebesangelegenheiten geht.

Sie entwickeln eine ungeheure Phantasie dabei, männliche Verhaltensweisen vorteilhaft zu interpretieren. Unterstützt von Chor der Freundinnen entwickeln sie die abstrusesten Theorien. Er ist nicht zur Geburtstagsparty gekommen? Er ist halt schüchtern und wäre lieber mit ihr allein. Er hat sich seit Wochen nicht mehr gemeldet? Er arbeitet doch gerade an diesem wahnsinnig wichtigen Projekt. Und der Klassiker: er hat Angst vor Nähe.

Die banalste und naheliegendste Erklärung, dass der Holde einfach kein Interesse hat oder anderweitig versorgt sein könnte, wird in solchen konspirativen Runden einfach wegewedelt wie ein lästiges Insekt. Schließlich wird Frauen von klein auf eingehämmert: Männer wollen immer. Und wer nicht will, wird eben willig gemacht.

Längst sind das Internet und vor allem die sozialen Netzwerke zu unverzichtbaren Stalking-Tools für Verliebte geworden. Bei der aktuellen Debatte um Datenklau im Netz wundert mich nur, warum Schurkenfirmen wie Cambridge Analytica sich überhaupt die Mühe machen, aufwendige Apps zu programmieren, um an Informationen über Nutzer zu gelangen. Effektiver und kostengünstiger wäre es, einfach deren Ex-Freundinnen zu fragen.

Frauen sind Meisterinnen der Spionage, die persönliche Daten in einer Detailtiefe abschürfen, die schwindelig macht. Timelines werden über Wochen und Monate durchforstet, Freundeslisten, Likes und Kommentare analysiert. Er werden Screenshots gemacht und zur Beurteilung an Freundinnen geschickt. Reicht die digitale Überwachung nicht aus, werden im Extremfall sogar Späherinnen entsendet.

Manchmal führen solche Strategien zum Erfolg. Als eine Bekannte den Verdacht schöpfte, dass ihr love interest noch eine aondere datete, fand sie durch arkribische Netz-Recherche nicht nur deren Identität heraus, sondern auch, welche Veranstaltung sie zu besuchen plante. Kurzerhand warf sie sich in Schale, lotste den Liebsten auf dasselbe Event und ließ den Dingen ihren Lauf. Die Rivalin war danach Geschichte, Drama inklusive.

Was bleibt, ist ein schaler Beigeschmack. Wie ernst kann man einen Liebes-Triumph nehmen, der auf Manipulation und Intrigen basiert? Sollte das Ideal nicht ein Partner sein, der sich aus freien Stücken für einen entscheidet?

Grundsätzlich gilt: in der Liebe, im Krieg und im Internet ist alles erlaubt. Planvoll erzwungenes Glück muss nicht schlechter sein als zufällig gefundenes. Allerdings sei dringend dazu geraten, vor dem Verschicken der Verlobungsankündigungen wenigstens das erste Date im Real Life abzuwarten. Idealerweise sollten dabei beide Parteien vorab über das Treffen informiert sein.

 

Fräulein, 02/2018