(Keine) Zeit für Verschleiss

Loch ist immer gut

Die Hose als Hilferuf: Gestresst, mürbe und an den Rändern ausgefranst. Dem Trend zu Distressed, Destroyed und Frayed Demin gelingt, was der Mode heute keiner mehr zutraut – er bildet unseren kollektiven Seelenzustand ab.

Wenn es eine Aussage gibt, die sich derzeit auf politische wie ästhetische Phänomene gleichsam anwenden lässt, dann diese: Es sieht nicht gut aus.

Überforderung auf allen Fronten. Irgendwann kommt zwangsläufig er Punkt, an dem man Netflix und N24 verlassen muss, um in soziale Kontexte einzutreten. Lebensmittel müssen eingeholt, Freunde getroffen und Veranstaltungen besucht werden. Aktuell tut man dies am würdevollsten in einer Jeans, die so kaputt ist wie die Welt da draußen.

Panische Moderedakteurinnen sehen bereits ihre Felle davonschwimmen und postulieren schnell: „Hässlich ist das neue Cool!“. Eine Aussage, mit der sie sich endgültig in die totale Obsoleszenz katapultieren, denn mit „hässlich“, „neu“ und „cool“ werden gleich drei sinnentleerte Worthülsen aneinandergereiht, die zur Zustandsbeschreibung der urbanen Bekleidungspraxis nicht mehr taugen.

Die Mode hat es gerade nicht leicht. 2016 ist sie ein Bäh-Wort. Da Konsum, Begehren und Identität unentwirrbar miteinander verknüpft sind, bleibt die Gier nach neuen Waren nach wie vor unstillbar. Ein Dilemma, aus dem Fashionistas sich gerne mit der steilen Schwurbelthese rausreden, sich lediglich für Kleidung zu interessieren. Was könnte der modischen Geckenhaftigkeit unverdächtiger sein als eine Jeans, noch dazu eine alte, abgetragene?

Kaputte Jeans sind nicht neu, nicht besonders cool und ob sie hässlich sind, darf jeder selbst entscheiden. Bemerkenswert ist die Hartnäckigkeit, mit der sie sich im Straßenbild halten und mit der jede Saison neue noch-kaputtere oder anders-zerstörte Versionen auf dem Markt geworfen werden. Ihre Persistenz verweist zwangläufig auf ein tiefes Bedürfnis. Nur auf welches?

Gerade weil die Jeans sich wie kein zweites Kleidungsstück zur Externalisierung innerer Prozesse eignet, gehört sie eigentlich nicht ins 21. Jahrhundert. Sie ist ein Mode-Anachronismus, ein Überbleibsel aus einer Zeit, als mit Kleidung Ideologien und klare Standpunkte verhandelt wurden. Als es noch Grenzen gab, die zu durchbrechen es sich lohnte. Als nicht dazugehören noch romantisch war.

Die Kulturgeschichte der Jeans füllt Bände, die um die ewig gleichen Begrifflichkeiten kreisen. Die Soziologin Anna Schober erblickt in der Geste des Jeanstragens als Indiz für essentielle Demokratie und soziale Devianz. Andere Denim-Historiker verweisen auf das Abtragen, Zerschleißen und Zerstören von Jeans als subkulturelle Ermächtigungs-Strategie. Sie schreiben, Distressed Denim würde den Glauben an die mystische Würde von körperlicher Arbeit versinnbildlichen.

Nur, wer nimmt einem das heute noch ab? Wenn ein schwerreicher Styler wie Kanye West eine total abgefuckte Jeans-Ruine zum Pelzmantel kombiniert, ist das nicht als Jenny-from-the-Block-mäßige Anbiederung zu verstehen, sondern als Distinktion auf höchsten Niveau. Was wäre schließlich dekadenter, als Geld für etwas auszugeben, das von vornherein schon im Arsch ist?

Die Jeans des Jahres, das steht jetzt schon fest, ist ein Modell des Überlabels Vêtements, das aus Teilen zweier Vintage-Levi’s 501 besteht und ausschließlich online für den Preis von 1150 Euro erhältlich ist, bzw. theoretisch wäre, den das Ding ist immer ausverkauft.  Man kann das Dekonstruktion nennen, man könnte aber auch sagen, dass diese Jeans den Zustand der gegenwärtigen Popkultur ziemlich gut auf den Punkt bringt: Die Kunst besteht darin, irgendwelche alten Kamellen so stümperhaft zusammenzuschustern, dass möglichst nichts passt und das Ganze anschließend mit einem horrenden Preisschild zu versehen.

Der ursprüngliche Unique Selling Point der Jeans, ihre robuste Strapazierfähigkeit, ist heute zum Ärgernis geworden. Wer braucht schon Klamotten, die ewig halten? Bis der gewollt authentisch-verratzte Used-Look sich einstellt, kann es Jahre dauern. Wir haben keine Zeit für Verschleiß. Wir wollen das Ziel, nicht den Weg.

Zum Glück gibt es Unterprivilegierte, die diesen Job für uns erledigen. Das Heer der namenlosen Globalisierungsopfer fräst in lichtlosen Kammern Löcher in unsere Hosen, weil unser Alltag zwischen Bildschirm, Supermarkt und Bar keinerlei materialzehrenden Qualitäten aufweist.

Der Bedeutungshorizont von Destroyed Denim ist ambivalent. Die  Zerstörung sinnlicher Stofflichkeit schafft Platz für Neues, dass noch keine Gestalt besitzt.

„Das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, das es hienieden gibt“, schrieb Kurt Tucholsky 1931 in seiner Satire  „Zur soziologischen Psychologie der Loecher“. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut.“

So kann das Loch in der Hose auch als Ausbruchsversuch aus einer ereignislosen Hyperrealität verstanden werden, der ausgefranste Saum als aufregender Flirt mit dem Nichts. Distressed Denim als Seelenkleid für die Suche nach dem vergessenen Menschlichen, dem Gemachtsein der Dinge hinter ihrem glänzenden Tauschwert. Die Tatsache, dass der identitätsstiftende Materialverschleiß mittlerweile Outsourcing erfordert, ist lediglich ein weiterer Widerspruch, mit dem wir leben wir müssen.

 

Spex No. 370, September/Oktober 2016