Jugend

Lasst die Teenager in Ruhe!

Jugendlichen wird heute vorgeworfen, sie seien zu angepasst. Das Vorurteil dient den Älteren vor allem dazu, hemmungslos die eigene Jugend zu idealisieren.

Vor Kurzem war ich  mit einem alten Freund zu einem Spaziergang verabredet. Es war ein sehr heißer Tag. Wir zählten uns gegenseitig die Vorzüge der verschiedenen Berliner Freibäder auf, als er sich spontan inspiriert fühlte, folgende Jugendanekdote zum Besten zu geben: Er sei damals immer nachts mit seinen Kumpels ins Freibad eingestiegen, um dort Bier zu trinken und anschließend nackt vom 10-Meter-Brett zu springen.

Schöne Geschichte. Er hatte nur vergessen, dass wir in derselben Gegend aufgewachsen sind. Ich wusste also, dass es in besagtem Bad gar keinen richtigen Sprungturm gegeben hatte, nur einen popeligen Dreier. Außerdem war das Gelände in dem von Schwarzen Sheriffs mit eiserner Faust regierten München der späten 1980er Jahre ungefähr so gut bewacht wie Fort Knox. Kurzum: Die Story war der totale Quatsch. Ich weiß nicht, ob er selber daran glaubte. Vielleicht hatte er die Szene mal in einem Film gesehen.

Nirgends wird so schamlos Geschichtsklitterei betrieben wie an der eigenen Biografie. Konventionelle Hochstapelei, wie der Fall der SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz, die sich Abitur plus Jurastudium in ihren Lebenslauf fabulierte, ist dabei die langweiligste Variante. Aufstiegsfantasien sind für Kleingeister. Wer es dagegen darauf anlegt, sich ein paar markante Zacken in das sonst allzu glatte Profil zu schnitzen, schillert mit Wildheit und Außenseitertum einer längst vergangenen Jugend.

 

Selbst-inszenatorische Subversionsrhetorik

Als im Frühjahr die Sinus Jugendstudie 2016 erschien, war die Häme der Presse groß: Eine Generation einfaltspinseliger Konsumopfer wachse da heran, die sich nach Festanstellung statt Systemumsturz sehne. Die Jugend von heute sei spießiger und angepasster als ihre Eltern. Pfui, Skandal! Die Empörung der Kommentatoren sagt viel über ihr eigenes Selbstbild aus: Sie gehören den geburtenstarken Jahrgängen der Baby Boomer und der Generation X an, die in der Zeit der großen Selbstzerstörungs-Ikonen der Popkultur groß geworden sind.

Entscheidend für die identitätsstiftende Funktion solcher Fake- oder gepimpten Erinnerungen ist das Vorherrschen eines vagen Subversionskonsenses, der den Beteiligten dieserlei Klönrunden den schick-verwegenen Nimbus des Rebellen verleiht, ohne in die Verlegenheit zu kommen, diesen Anspruch auch einlösen zu müssen.

Gefangen in eine permanenten Reproduktionsschleife werden längst kommerzialisierte und fiktionalisierte Ikonographien zu imagefördernden Ersatzidentitäten zusammengebastelt.

Als Ende des vergangenen Jahres der Musiker Lemmy Kilmister verstarb, überboten sich die Dreißig- bis Fünfzigjährigen in den sozialen Netzwerken gegenseitig mit tiefempfundenen Kummerbekundungen. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese Leute in ihrer Jugend eine einzige Motörhead-Platte besessen oder auch nur jemals gehört hatten. Lemmy-Gutfinden war nichts weiter als ein wohlfeiles Mittel der Statusgenerierung, eine Coolness-Technik, vergleichbar mit der mühsam erlernten Goutierung seltener Gin-Sorten oder der Vorliebe für Serien in der Originalfassung.

 

Schafe im Wolfspelz

Selbsterhöhung erfordert Opfer. Um die Narration der eigenen Wildheit nicht zu gefährden, wird gnadenlos auf jene Bevölkerungsgruppe draufgehauen, die weder Macht, Geld noch eine hörbare Stimme besitzt – auf die Jungen, die ihren Weg erst noch finden müssen. Teenager haben keine Lobby.

Das Problem mit der Devianz ist, dass sie sich hinterher gut anfühlt, währenddessen aber weh tut. Wie viele haben im echten Leben schon die Traute, ihr Anderssein jeden Tag aufs Neue einer feindlichen Umwelt gegenüber zu behaupten? Den Mainstream zeichnet nun mal aus, dass man sich in ihm geborgen fühlt, während der Underground zu allen Zeiten nur von wenigen Wagemutigen bespielt wurde.

Selbst die härtesten Rebellen-Jahrgänge kochten nur mit Wasser. Der Jugendforscher und Gründer des Berliner Archivs der Jugendkulturen Klaus Farin schreibt, dass auch in der heute legendären 68er-Generation nur drei bis fünf Prozent der Studierenden tatsächlich demonstrierend auf die Straße gingen. Die Jugendzeitschrift Bravo zeichnete in den Jahren 1967 bis 1970 nicht die Rolling Stones oder The Who als beliebteste Künstler aus, sondern Roy Black. 1977 waren es nicht die Sex Pistols, sondern ABBA. 1991 nicht Nirvana, sondern die New Kids on the Block.

Wenn die Alten von heute gar nicht so wild waren, wie sie gerne behaupten, dann sind im Umkehrschluss die Jungen vielleicht auch nicht so brav, wie es geschrieben wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass die amtlichen Seismographen des jugendlichen Subversionspotentials versagen. In dem 1957 erschienenen Buch „Die skeptische Generation“ beschrieb der Soziologe Helmut Schelsky die deutsche Nachkriegsjugend als eine angepasste und auf den eigenen Vorteil bedachte Generation, von der in Sachen Revolution auch zukünftig nichts zu erwarten sei. Etwa zeitgleich erschütterten die ersten Halbstarkenkrawalle die Republik, zehn Jahre später kamen die Studentenunruhen, zwanzig Jahre später Punk. Mag sein, dass die Teenager uns noch überraschen werden. Ob es uns gefallen wird, was sie zu sagen haben, steht auf einem anderen Blatt.

 

The kids are alright

Ich weiß nicht mehr, was ich in dem Sommer gemacht habe, als ich fünfzehn war. Wahrscheinlich war ich in irgendeinen Typen verknallt und peinlich darauf bedacht, dass er es nie erfährt. Und wahrscheinlich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich zu dick bin, und welcher Abdeckstift meine Pickel am Besten kaschiert. Jedenfalls hatte ich das Glück, damals nicht von einem Jugendforscher zu meinen Zukunftsvorstellungen befragt zu werden. Wahrscheinlich hätte auch ich gesagt, dass ich später mal viel Geld verdienen will und mit meiner Familie in einem großen Haus leben möchte. Was wusste ich denn schon? Mein Leben kam mir damals unendlich lang vor. Ich hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlt, älter zu werden. Ich wusste nicht, dass ich auf meinem 40. Geburtstag sogar zu den Hits meiner Jugendzeit tanzen würde, die ich damals eigentlich gar nicht mochte.

Jungsein ist auch 2016 keine leichte Aufgabe. Volltätowierte werben für Bausparverträge und es gibt Magazine mit Titeln wie „Golf Punk“ oder „Business Punk“. Die alten Auflehnungsformen sind zu inhaltsleeren Chiffren geworden. Doch sollte man nicht vergessen, dass die rebellischen Jugendkulturen, auf die wir uns heute so gerne berufen, sich nicht in erster Linie durch eine Ästhetik auszeichnen, sondern durch eine Haltung.

 Neulich wurde ich bei einem Abendessen Zeugin eines Blicks, den ein 16-Jähriger seinem Vater zuwarf, als dieser nach ein paar Gläser Rotwein ein Stück von Marilyn Manson aus der Playlist wählte. Ich hätte den Moment gerne für immer eingefroren: Diese absolut blasierte Genervtheit, gepaart mit einem Hauch von Mitleid für den alten Mann, der so gerne cool sein möchte. Würde es gelingen, diesen Blick zu destillieren, zu einer Essenz verarbeiten und in schicke Flakons abfüllen, könnte man damit eine Menge Geld verdienen. Ein Parfüm, das nach Pheromonen, Turnschuhen und Verachtung duftet. Ich würde es mir kaufen.

 

Zeit Online, 10 nach 8, 5. Oktober 2016