Distressed Denim

Untote Jeans

Jeans, das Internet und der Tod machen alle Menschen gleich. Im Gegensatz zu den beiden letzteren Phänomenen lässt sich der Bedeutungshorizont der Jeans relativ leicht auf den Punkt bringen: Sie stehen für Freiheit und Abenteuer.

Die älteste noch erhaltene Jeans der Welt wurde in einer verlassenen Bergarbeiterstadt im US-Bundesstaat Nevada entdeckt, Denim-Historiker schätzen die Hose wegen ihrer Kupfernieten auf das Jahr 1880. Ausgebleicht, abgewetzt und mit diversen Löchern und Rissen versehen erzählt sie uns eine Geschichte, die wir alle bereits zu kennen glauben. Von echten Männern, der Einsamkeit im Schacht, von Staub, Schweiß und Tränen. Nächte am Feuer, der Geschmack von Whisky und Bohnen.

Eine derartige Verniedlichung von Unterprivilegierung funktioniert nur im Rückblick. Als der Westen noch wild war, galt die Jeans nicht als Statement, sie war eine Notwendigkeit.

Ungefähr zur selben Zeit, als sich ein unbekannter Bergarbeiter  in eben dieser Hose – Levi’s, Modell XX – durch den Stollen kratzte, formulierte der Soziologie Thorstein Veblen seine These der „demonstrativen Muße“ für die bürgerliche Mode. Dabei kommt es darauf an, durch die Kleidung anzuzeigen, dass man nicht dazu gezwungen ist – ja, gar nicht in der Lage dazu wäre – körperliche Arbeit zu verrichten. Dass man konsumieren kann, ohne zu produzieren. Elegant und modisch ist demnach alles, was unpraktisch, empfindlich und unbequem ist. Die vestimentäre Trennlinie verlief deutlich zwischen oben und unten: Schmutz und Arbeit hier, Sauberkeit und Freizeit dort.

Heute arbeiten tendenziell mehr Menschen in Büros als in Bergwerken. Dadurch ist die unverwüstliche Robustheit der Nietenhose zum Anachronismus geworden. Anders ausgedrückt: Wer tagein tagaus auf einen Computer-Bildschirm starrt, dessen Beinkleider sind keinerlei materialzehrender Belastung ausgesetzt. So jemand könnte theoretisch auch in feinstem Zwirn zur Arbeit erscheinen. Mit Korsett und Reifrock oder Frack und Zylinder vor dem Rechner sitzen. Aber genau das tut natürlich niemand, weil: Hey, unser Leben ist doch aufregend, oder?

Die demonstrative Zurschaustellung von Wohlstand ist uns zu billig geworden. Es gilt das Prinzip der prätentiösen Verwahrlosung. Wir wollen so aussehen, als ob wir auf Karriere und Status pfeifen. Als wären unsere Jeans unsere besten Freunde in dem spannenden Abenteuer unseres Lebens. Doch woher soll das authentisch Abgerockte kommen, wenn der Alltag nur aus Rumsitzen besteht? Wenn Arbeit und Freizeit, oben und unten sich nicht mehr sauber trennen lassen? Wenn das verdammte Ding also unter realen Bedingungen einfach unzerstörbar ist? Die Notwendigkeit einer Denim-Verschleißungs-Industrie, die kunstvoll Sitzfalten, abgewetzte Stellen und sorgfältig platzierte Löcher in unsere Hosen fräst, zeugt von einer Existenz, die längst so leicht geworden ist, dass sie keinen Abdruck mehr hinterlässt. Damit wird die Jeans zur Symptomhose. Sie zeigt, wie wir gerne wären, nicht wie wir sind. Als Stellvertreter macht sie das sichtbar, was dem Auge sonst verborgen bliebe.

Distressed Denim als Schmerzenskleid der Genration Burn-Out.

Weil unsere Leiden nicht zur Romantik taugen, tragen wir an unseren Jeans die Spuren eines Lebens, das wir nie gelebt haben.

De:Bug 174, Juli/August 2013