Abgrund & Oberfläche

Pretty in Flecktarn-Pink

COMPUTER SAGT NEIN

Was haben Tinder und der deutsche Winter gemeinsam? Sie sind kein Wunschkonzert, Ponyhof oder Kindergeburtstag. Beide sind kalt und grausam. Sie verheißen viel, enttäuschen aber meistens. Man träumt von Behaglichkeit und Beisammensein und friert sich am Ende verlassen und mutterseelenallein an einem winddurchpeitschten U-Bahnhof den Arsch ab. Warmduscher und Schattenparker, oder zu Neudeutsch: Opfer, bleiben am besten gleich zu Hause. Dazu passt der Top- Lifestyle-Trend des Jahres Hygge, der das Wimpdom zur zeitgenössischen Kunstform erklärte. Schön Duftkerze an und unangenehme Themen werden ausgesperrt.

Selbst die Mode, diese launische Herrin, liebte es 2017 unauffällig bis kuschelig. Blutjunge Influencerinnen feierten unter dem Hashtag #Menocore den Look des Post-Klimakteriums und hüllten sich mit Vorliebe in beigefarbene Säcke. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen oder aus der Reihe tanzen! Tarnung, Anonymisierung, Assimilation lautet die Strategie der klugen Neurotikerin.

So machte es auch Sinn, dass der der Camouflage-Print, das Vichy-Karo der Soziopaten, in diesem Jahr wieder allerorten zu sehen war.  Natürlich war Camouflage niemals wirklich weg. Wie Streifen, Schottenkaro oder Leopardenfell ist Flecktarn fester Bestandteil des popkulturellen Musterkatalogs und kann daher wie eine monochrome Farbe eingesetzt werden.

Es ist wohl seinem dezenten Naturell geschuldet, dass der 100 Geburtstag des Camouflage-Musters in diesem Jahr weitgehend unter den Tisch fiel. 1917 begannen britische Soldaten im 1. Weltkrieg damit, ihre Gegner durch eine optisch perfekte Anpassung an die Umwelt zu verwirren. Fünfzig Jahre später malten Blumenkinder Piece-Zeichen auf gebrauchte Uniformjacken, Pop-Art Künstler wie Andy Warhol oder Alighiero Boetti brachten den Print ins Museum. In den 1990ern vereinte Camouflage alle  relevanten subkulturellen Strömungen wurde zum Lieblingsmuster der Grunge-Kids, Techno-Anhänger und HipHopper

Im Mai 2017 schockte Krawallschwester Madonna zur New Yorker MET Gala in einem bodenlangen Camouflage-Kleid des Moschino-Chefdesigners Jeremy Scott und erklärte damit laut eines Kommentator der New York Times „der Mode den Krieg“. Stilsicherer wirkt Camouflage in der abgeranzten Distressed-Variante als schmale Military-Jacke oder Baggy-Pant.

Flecktarn gibt in den drei Basic-Varianten: Wald, Wüste und Schnee. Zu den weniger aufsehenerregenden Skandalen des vergangenen Jahres zählt der, dass die U.S. Army 28 Millionen Dollar verpulverte, um die Afghanische Armee mir neuen grün-braunen Uniformen auszustatten, die zwar in den satten Hügeln Oregons zur Tarnung bestens geeignet wären, an den kargen Hängen des Hindu Kush diesen Zweck jedoch gänzlich verfehlen. Es sei eine dumme Entscheidung gewesen, räumte ein Sprecher später ein, die rein auf „modischen Vorlieben“ basiert hätte.

Ob da ein Entscheidungsträger wohl zu viel Lil’ Peep gehört hatte? Der süße Nu-Emo-Rap-Boy stellte im März Sinn und Zweck des Tarnmusters auf den Kopf für das L.A. Skaterlabel Superradical eine Kollektion in knallpinkem Camouflage designte.

Im November bewies er dann eindrucksvoll, dass der frühe Rock’n’Roll Tod auch für die Generation Z noch eine Option darstellt. Wobei seine Wahldroge – das verschreibungspflichtigen Beruhigungsmittels Xanax – an Hygge-Haftigkeit kaum zu überbieten ist. Entspannung ist das neue Heroin.

Man munkelt bereits, dass Hygge noch vor dem Julfest vom neuen Lifestlyle-Trend Lagom abgelöst wird. Der Begriff stammt, so weiß das Fachblatt Elle (Deutschland) zu berichten, aus der „Design-Hochburg Schweden“ und bezeichne und für die Auslotung der Mitte aller Dinge stünde. Minimalismus, Achtsamkeit und Ausgeglichenheit lauten die Wunscheigenschaften der Zukunft.

Schade, eigentlich: rücksichtlose Schmuse-Exzesse im Einhorn-Land dürften damit 2018 endgültig passé sein. Allen, denen das erbsenzählerische Abwiegen nicht so liegt, bleibt immer noch der Camouflage-Komplett-Look. Bei schlechten Tinder-Dates einfach ein Tarnnetz überwerfen erleichtert den unrühmlichen Abgang ungemein.

 

Spex, No. 378, Januar/Februar 2018