Abgrund & Oberfläche

Sneakerbrutalismus

Nichtdeutsche User beömmeln sich ja im Internet gerne mal über die Sprache der Dichter und Denker. Häufig wird auch geschrieben, dass es im Deutschen Wörter für Gefühle gäbe, die andere Nationen zwar empfinden aber nicht benennen könnten, wie Schadenfreude oder Weltschmerz.

In diesen Aufzählungen jedoch fehlt, ist ein Begriff für die spezifische Mischung aus Scham und Missgunst, die einen befällt, wenn man zufällig einen ehemaligen Klassenkameraden trifft, der einem ungefragt eine Visitenkarte mit imposantem Job Title überreicht, während man selbst weder noch vorweisen kann.

Manchmal überlege ich mir, mir extra für solche Momente Visitenkarten mit ausgedachten Berufsbezeichnungen wie Senior Urban Style Consultant oder CEO of Procrastination drucken zu lassen. Oder auch einfach: Wer das liest, ist doof.

Man kann natürlich auch behaupten, man hätte im Nachtleben promoviert, wie der Loveparade-Stammvater Dr. Motte. Was mach der eigentlich heute? Man möchte es nicht wissen. Überhaupt Loveparade: damals fing es doch an, mit diesen Turnschuhen, die aussehen wie Mondfahrzeuge.

Lange galten Buffalos dann als Inbegriff der prolligen Stilentgleisung, auf einer Stufe mit Ed-Hardy-Käppis und Arschgeweih. Im Zuge grassierender Ironisierung der Mode sowie viraler Neunziger-Jahre-Verkultung wurden aber in den letzten Jahren in den einschlägigen Bezirken bereits vereinzelt Fuß-Avantgardisten mit Vintage-Klumpschuhen gesichtet. Spätestens seit er letzten Fashion Week in Paris gilt der sportive Brutalismus untenrum als neuer Goldstandard. Natürlich nicht von schnöden Allerwelts-Sneaker-Brands, sondern von Labels, die eigentlich für die Tradition feinster Lederwaren stehen. Die beliebtesten Modelle: Balenciaga Triple S (799 Euro), Luis Vuitton Arclight (850 Euro) und Acne Manhattan (390 Euro).

Nennt mich konservativ, aber fußtechnisch bin noch von der alten Schule. Das bedeutet: Schmerz macht frei und sexy. Den Einwand, mit hohen Absätzen könne man nicht laufen, lasse ich nicht gelten. Darum geht es ja gerade. Trotzdem zu laufen und zwar jeden verdammten Tag. High Heels sind eine Metapher für die Überwindung der kreatürlichen Geworfenheit durch harte Disziplin und Entbehrung.

All das soll nun auf einmal nichts mehr wert sein. Seit wann war Bequemlichkeit ein Kriterium? Wieso quält man sich jahrzehntelang und züchtet meterdicke Hornhaut an den Fußballen, wenn jetzt jede daher latschen kann, wie sie will. Empörung! So müssen sich Weltkriegsveteranen angesichts der ersten Punks gefühlt haben.

Versöhnlich stimmt dann höchstens, dass auch Sneakerheads leiden müssen. So wie Anfang dieses Jahres, als die Berliner Verkehrsbetriebe hunderte Hardcore-Fetischisten für ein limitiertes Modell in graffitiabweisenden Sitzbezug-Design und integrierter Jahreskarte bei Minusgraden tagelang auf dem Kreuzberger Pflaster ausharren ließ. Der Fahrgastverband kritisierte die Aktion allen Ernstes, weil dadurch Menschen mit Fußfehlstellung benachteiligt würden. Fehlstellungen ästhetischer Art, die den Besitzwunsch ausgelöst haben mögen, kamen in dem Statement nicht zur Sprache.

Möchte man die, ebenfalls wieder hip gewordene, brutalistische Architektur als zugegebenermaßen kreuzlahme Analogie heranziehen, lässt sich der Liebe zu den Sneaker-Ungetümen vielleicht doch noch ein tieferer Bedeutungskern abringen. Sichtbeton-Freaks betonen stets den utopischen Charakter dieser Gebäude. Denkbar, dass auch die Anhänger der aufgeschäumten Plastiksohlen insgeheim an eine bessere Zukunft ohne Blasenpflaster und Visitenkartenmenschen glauben wollen.

Tatsächlich erinnern die derzeit angesagten Modelle verdächtig an jene High-Tech-Hufe, die Marty McFly, Protagonist von Zurück in die Zukunft I-III, in einem fiktiven Jahr 2015 trug. Natürlich ohne das coole Selbstschnürungs-Feature. Die real existierende Zukunft im Jahr 2018 lässt im direkten Vergleich einiges zu wünschen übrig: wir haben immer noch keine fliegenden Skateboards, dafür BVG-Ersatzverkehr und Schuhe, für die man sich bücken muss. Vielen Dank, Frau Merkel!

 

Spex No. 380, Mai/Juni 2018