Abgrund & Oberfläche

Zwischen Leber und Filz

Der Mensch Joseph Beuys war neben vielen anderen Dingen auch ein klammheimlicher Styler. Klammheimlich deshalb, weil er wahrscheinlich lieber seinen eigenen Filzhut gefressen hätte als zuzugeben, dass er jeden Morgen in voller Montur vor dem Spiegel stand und sich selbst einfach nur geil fand. Geile Weste, geiles Hemd, geiler Mensch. Die Künstleruniform ist die Königsdisziplin der Anti-Mode. Meeses Trainingsjacke, der Warhols Perücke oder die Lederjacke der Ramones sind Beispiele für eine demonstrative Abwendung von allem modischen, oberflächlichen, gefälligen. Dabei ist die Künstleruniform so unverhohlen selbstverliebt, dass sogar Insta-Girls wie Kylie Jenner den Fedora ziehen müssten.

Stichwort Filzhut: Erst neulich erfuhr ich, dass die so genannte Tartarenlegende*, die einst aus dem berufenen Munde des Kunst-LK-Lehrers an mein erstauntes Teenager-Ohr drang, totaler Quatsch ist. Mittlerweile ist zweifelsfrei belegt, dass Beuys Obsession mit dem Werkstoff Filz ist nicht auf irgendein ethnisches Brimborium zurückzuführen ist, sondern auf die schnöde Tatsache, dass sein Bonner Elternhaus sich in der Nachbarschaft einer Pantoffelfabrik befand, vor der Filzballen lagerten. Woher das Fett kam, habe ich vergessen. Wahrscheinlich stand daneben noch eine Fettfabrik.

Wieso erfahre ich das erst jetzt? Natürlich war mal wieder keiner auf die Idee gekommen, bei den Tartaren nachzufragen, ob sie ihre verwundeten Krieger überhaupt in eingefettete Filzmulden zu betten pflegten. Belegt hat diesen skandalösen Art Scam der Beuys-Biograf Hans Peter Riegel. Nicht belegt ist dagegen, dass dieser Hans Peter Riegel ein direkter Nachfahre des Gummibärchen-Magnaten Hans Riegel Bonn (Haribo) ist, was mir nach eingehender Betrachtung der Sachlage jedoch als zwingend logisch erscheint.

Tartarenlegende hin, Pantoffelfabrik her: der Filz ist da. Kein anderes Material verkörpert in solch vollkommenem Maße ressourcenschonende Erdverbundenheit wie der Filz. Filzen ist ein beliebtes Hobby bei Frauen ab Mitte Dreißig. Besonders Kleinkinder werden von ihnen häufig komplett eingefilzt. Filz ist so Mainstream, dass es ihn sogar bei Tschibo gibt. So manch einer wurde sogar schon mal von der Polizei gefilzt.

Filz ist das Gegenteil des bösen Plastiks. Früher war alles aus Plastik. Schönem, buntem, abwaschbarem Plastik. Das schlimmste Plastikverbrechen, dass ich jemals begangen habe war, 1996 mit voller Absicht eine leere Crystal Pepsi-Fasche ins Naturschutzgebiet des Joshua-Tree-Nationalparks zu werfen. Ich tat das aus Protest. Gegen die Band U2, deren Hit I still haven’t found what I’m looking for vom Album Joshua Tree (haha) mir einen höchst unwillkommenen assoziativen Dauerohrwurm bescherte. Ähnlich sauer war ich erst wieder 2014, als Apple mir das U2-Album Songs of Innocence als Zwangsgeschenk auf mein iTunes spammte.

Crystal Pepsi war ein Modegetränk der Neunziger Jahre, eine durchsichtige koffeinfreie Cola, die sogar nach Plastik schmeckte. Wikipedia sagt, Pepsi habe damit auf den Trend regiert, das Dinge „rein“ sein sollten oder zumindest so aussehen, was natürlich totaler Irrsinn war. Wahrscheinlich werden Erfrischungsgetränke bald in bienenwachsversiegelten Filzhumpen gereicht.

Auf Trend folgt Anti-Trend, so will es das Gesetz der Mode. Das bedeutet, der Filz kann bald einpacken. Recycelte Plastikflaschen sind das Material der Zukunft, das verkündete die letzte Fashion Week in London. Bald werden Lifestyle-Bastelläden seltene Vintage-Plastikflaschen im Angebot haben.

Wie gut, dass ich dann weiß: wenn noch keine Sträflingskolonne diesen gottverdammten Winkel des Joshua-Tree-Nationalsparks mit Müllpieken durchkämmt hat, dann liegt diese Flasche Crystal Pepsi vermutlich immer noch dort.

* Die mittlerweile widerlegte “Tatarenlegende“ besagt, dass Beuys im März 1944 über der Krim abstürzte, lebensgefährlich verletzt und von Tataren mit Fett und Filz wieder aufgepäppelt wurde.

 

Spex No. 381, Juli/August 2018