Zum Bild werden:
Die (Mode-)Fotografie der Post-Internet-Generation
Die rasche Verbreitung der Smartphone-Fotografie und der Aufstieg der sozialen Netzwerke führten am Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem digitalen Visualisierungsschub, der insbesondere Konzepte des Körpers und der Identität in den Blick nahm. Das Posieren für Fotos als Akt der kreativen Selbstdarstellung wurde zur prägenden Kulturtechnik der »Generation Sefie«. Selbstredend war Mode, zu der neben Kleidung auch Accessoires, Frisuren, Make-Up sowie weiteren Techniken der Köperveränderung, wie Tattoos, Piercings oder kosmetische Eingriffe zählen, dabei stets unverzichtbares Mittel, um den eigenen Körper in immer wieder neuen Variationen zu präsentieren. Der häufig erhobene Vorwurf einer narzisstischen, in das eigene Abbild verliebten Generation übersieht dabei die politischen Impulse des Sich-zeigens, die in den letzten Jahren deutlich auf die Modeindustrie zurückwirkten.
Die Konstruktion von Identität durch Akte der expressiven Selbststilisierung, auch außerhalb der gesellschaftlich konsensuellen Normen von Schönheit und »gutem« Geschmack, war spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts integraler Bestandteil der Jugend- und Subkulturen. Provokative Stil-Performances, wie etwa die der Garçonnes der 1920er- oder der Punks der 1970er-Jahre sorgten zunächst im Straßenbild für Aufsehen, wurden kurz darauf von der Presse als Beispiele für den Verfall von Moral und Sitten der Jugend verhandelt – und fanden schließlich in abgeschwächter Form Eingang in den Mode-Mainstream.
Die neue Welle digitaler Modebilder unterschied sich davon nicht nur durch die für die Netzkultur kennzeichnende Beschleunigung der Abläufe, sondern vor allem durch eine ungeheure Ausweitung des Wirkraums. Fotos konnten jetzt mit geringem Aufwand binnen Sekunden im Netz mit einer weltweiten Öffentlichkeit geteilt und von dieser kommentiert werden. Ebenso wie die Mode von Nachahmung lebt, verbreiteten sich nun Bildimpulse und Darstellungstechniken. Binnen weniger Jahre entstand so eine komplexe und anspielungsreiche Bildkultur, innerhalb derer klassische Motive der Modefotografie des 20. Jahrhunderts immer wieder referenziert, abgewandelt und ironisch gebrochen oder in neue Kontexte gestellt wurden.
Der Begriff »Post-Internet«, wurde 2011 von der Kuratorin Marisa Ohlson eingeführt, um eine neue Generation von Künstler:innen und deren ästhetische Praktiken zu beschreiben. Im Vordergrund stand dabei nicht die Nutzung digitaler Medienformate oder die Verfügbarkeit der Werke im Netz, sondern die inhärente Ambivalenz der Auseinandersetzung mit den visuellen Topoi des Netzzeitalters, die gleichzeitig genossen und kritisiert wurden[1].
Es sind besonders junge Frauen, die sich von den Potentialen der Netzkultur, den eigenen Körper facettenreich in Szene zu setzen, angesprochen fühlen. Denn mit Mode und Bildhaftigkeit hier fallen hier zwei Sphären zusammen, die traditionell dem Weiblichen als Ausdruckmedien zugeordnet werden. Zudem stellen die sozialen Netzwerke eine Erweiterung dessen dar, was die Kulturwissenschaftlerin und Feministin Angela McRobbie als bedroom culture[2] bezeichnete: ein zumindest vor körperlichen Angriffen geschützter Raum, innerhalb dessen verschiedene Identitätsentwürfe und deren Wirkung ausprobieren werden können. Das Schminken, Stylen, Anprobieren verschiedener Outfits und das Nachstellen von Posen bekannter Models sind feste Bestandteile solcher Bedroom-Rituale.
Der reizvolle Gegensatz von Intimität und bewusster Zurschaustellung, der die Bildproduktion des digitalen Zeitalters prägt, ist in den Arbeiten der niederländischen Künstlerin Liv Liberg deutlich spürbar. Im Alter von zehn Jahren begann sie, ihre vier Jahre jüngere Schwester in den Kleidern ihrer Mutter zu fotografieren. Zunächst mit dem Ziel, kommerzielle Modebilder aus Hochglanzmagazinen zu imitieren[3]. Über die Jahre entstanden eindringliche, teils beklemmende, teils auf bizarre Weise komisch anmutende Porträts. Vielschichtige Kommentare über das Mädchen-sein und Zur-Frau-werden und der Bedeutung, die der Mode in diesem Prozess zukommt.
Die spielerische Auseinandersetzung mit Formen weiblicher Selbst- und Fremdinszenierung und die enge, kollaborative Beziehung zwischen Fotografin und Modell blieben ihren Arbeiten auch dann erhalten, als Liberg schließlich als Modefotografin für Editorials und Anzeigenmotive gebucht wurde. In der Serie »Lotta« trägt Britt Liberg Kleidung des Luxuslabels Chanel mit derselben nonchalanten Attitüde, mit der sie einst den Kleiderschrank der Mutter plünderte. Der Titel spielt auf die Stylistin Lotta Volkova an, einer einflussreichen Stilikone der Millenials, die für das Projekt mit Liberg kooperierte. Volkova wurde berühmt für die Respektlosigkeit, mit der sie die Codes der High Fashion mit Trash-Elementen und subkulturellen Referenzen vermischte. Über ihre Jugend im postsovietischen Russland sagte sie einmal im Interview: »We had nothing, but we had the Internet«[4].
Die Vorstellung des Internets als einen dynamischen Bezugs- und Imaginationsraum, innerhalb dessen sich nicht nur Genre- sondern auch Klassengrenzen zwischen Hoch- und Straßenkultur auflösen, ist reizvoll. Jedoch ist es bei weitem noch nicht so, dass die Materialität der dargestellten Körper keine Rolle mehr spielen würde. So zählen Lotta Volkova und Britt Liberg als weiße, blonde, junge und sehr schlanke Frauen immer noch zu derjenigen Personengruppe, die auf kommerziellen Modebildern am häufigsten zu sehen ist. Das ermöglichte es Ihnen, diese explizit als Folie zu benutzen, auf der sie mit den Erwartungshaltungen der Betrachtenden spielten.
Für die Fotografin Nadine Ijewere, die als Kind nigerianisch-jamaikanischer Einwanderer in London aufwuchs, war die Ausgangslage eine vollkommen andere. Im Interview erzählt sie, dass sie es früher vermisste, die Hautfarben oder Haartypen der Frauen in ihrem Umfeld in Modemagazinen abgebildet zu sehen[5]. Wenn sie mit ihren Freund:innen die Posen weißer Models nachstellte, kämpften sie damit um Sichtbarkeit in einer Welt, die keinen Platz für sie vorgesehen hatte. Die Bildtraditionen, die weiße Künstler:innen Liv Liberg bereits langeweilten, musste sie sich erst noch erarbeiten.
Die Kunsthistorikerin Kaja Silverman benutzte den Begriff des Blickregimes, um auf die regulierende, normative und kontrollierende Macht kollektiver Sehgewohnheiten hinzuweisen. Der Blick verlange nach spezifischen Darstellungsweisen, um erblicken zu können. Im Umkehrschluss bedeute das: wer gesehen werden möchte, müsse sich an bestimmte Darstellungsparameter halten[6]. Die besondere Ausdruckskraft junger Künstler:innen wie Ijewere besteht darin, dass diese etablierte Strukturen nicht nur infrage stellen, sondern einfach beiseite wischen. Anstatt ihre Models dem Blickregime Mainstream-Modeindustrie zu unterwerfen, nahm Ijewere es sich heraus, den eigenen Blick, das eigene Erleben zum Maßstab zu erheben. Das Bild »Seashell« zeigt das lächelnde Gesicht einer jungen Frau mit Sommersprossen, grellblauem Lidschatten und einer Lücke zwischen den Schneidezähnen so, wie Ijewere sie sieht: einzigartig, stark und wunderschön. Zwar gab es vergleichbare emazipatorische Ansätze bereits in der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, aber erst die Netzkultur des 21. Jahrhunderts konnte eine Sichtbarkeit herstellen, die das Blickregime der Modeindustrie nachhaltig veränderte.
Die in Jamaika aufgewachsene Fotografin Amber Pinkerton berichtet, welche Rolle soziale Netzwerke wie Facebook oder Tumblr für ihre Entwicklung spielten. Wie viele ihrer Freund:innen, begann sie als Jugendliche damit, mit dem Smartphone in exzentrischen Outfits selbst zu fotografieren und teilte die Bilder online: »Das war unsere eigene kleine Kultur«[7]. Erst als sie fürs Studium nach London zog, fiel ihr die Marginalisierung Schwarzer Körper in den westlichen Medien auf. Zum ersten Mal in Ihrem Leben fühle sie sich anders. Pinkerton, die überwiegend mit Schwarzen Models arbeitetet, die sie zum Teil in den Straßen von Kingston findet, setzt Pinkerton mit Ihren Modeshootings das fort, was sie als Teenager in den sozialen Medien begonnen hatte: eine eigene Bildkultur zu entwickeln, die sich von den Ausschlussmechanismen der tradierten Modefotografie unbeeindruckt zeigte.
Dem Wesen nach ist Modefotografie ist ein Hybridmedium, dass weder der Sphäre der Kunst noch der des Kommerzes gänzlich zugerechnet werden kann. Diese Einschätzung stellt keine Abwertung des Genres dar, sondern begründet im Gegenteil dessen besondere Relevanz für gesellschaftliche Gestaltungsprozesse. Spätestens seit dem Beginn der Moderne bestand die Rolle der Mode auch darin, Alternativen zu hegemonialen Vorstellungen von Weiblichkeit, Männlichkeit oder sozialer Klasse aufzuzeigen. Das Medium der Modefotografie machte diese neuen Identitätsangebote einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und trug durch Ästhetisierung zu deren allmählicher Akzeptanz bei.
Die digitale Bildproduktion des Netzzeitalters setzt diese Tradition fort, allerdings mit veränderten Vorzeichen. Wie der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich bemerkte, existiere die »Zweiteilung zwischen Mensch und Rolle« im Zeitalter von Selfies nicht mehr, stattdessen würde das Posieren für Bilder eher der Praxis von Schauspieler:innen ähneln, die ihrem eigenen Körper zu einem »Kunstmittel« machten.[8] Die Selbstentwürfe der Post-Internet-Generation sind von der Rezeptionsdynamik des Internets geprägt, das interessenlose Scrollen durch Bilder unterschiedlichster Qualität und Provenienz spiegelt sich in ihrem eklektischen Umgang mit den vestimentären Codes. Das Ideal einer möglichst bruchlosen, unkorrumpierbaren Identität, deren Kern mit den Mitteln der Mode nach außen hin angezeigt wird, ist ein fragmentierter, brüchiger Mode-Körper-Hybrid getreten, der situativ stets neu interpretierbar ist. Die Zugriffs- und Partizipationsmöglichkeiten des Internets als gigantisches kulturellen Bildgedächtnis führten zu einer zunehmenden Verschmelzung von Realität und Virtualität, die ebenso wie Authentizität und Inszenierung nicht länger als Gegenpole gedacht werden müssen, sondern als parallele Erzählstränge, die sich in der Unendlichkeit des Bildraums kreuzen.
Literatur:
- McRobbie, Angela/Garber, Jenny(1975): Girls and Subcultures, in: Hall, Stuart, Jefferson, Tony (Hg): Resistance Through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain, London: Hutchinson. S. 209-223.
- MarisaOlson (2011): Postinternet: Art After the Interne. In: Foam Magazine 29, Winter 2011, S. 59-63.
- Silverman, Kaja (1997): Dem Blickregime begegnen. In: Chrisian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv, S. 41–64.
- Ullrich, Wolfgang (2019): Selfies. Wagenbach: Berlin.
[1] Vgl. Marisa Olson (2011): Postinternet: Art After the Interne. In: Foam Magazine 29, Winter 2011, S. 59-63.
[2]McRobbie, Angela/Garber, Jenny (1975): Girls and Subcultures, in: Hall, Stuart, Jefferson, Tony (Hg): Resistance Through Rituals. Youth Subcultures in Post-War Britain, London: Hutchinson. S. 210.
[3] Vgl. Interview mit Liv Liverg in Novembre Magazin Nr. 15, Dezember 2019, online abrufbar unter: novembre.global/magazine/britt-liberg-shot-by-liv-liberg [zuletzt abgerufen am 08.12.21].
[4] Vgl. Interview mit Lotta Volkova in 032c Issue #30, Juni 2019. Online abrufbar unter: https://032c.com/vetements-stylist-lotta-volkova-need-system [zuletzt abgerufen am 08.12.21].
[5] Vgl. Interview mit Nadine Ijewere mit Vogue.de am 02. Juni 2021. Online abrufbar unter: https://www.vogue.de/kultur/artikel/nadine-ijewere-fotografin-interview-co-berlin-ausstellung [zuletzt abgerufen am 08.12.21].
[6] Silverman, Kaja (1997): Dem Blickregime begegnen. In: Chrisian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv, S. 41–64.
[7] Vg. Interview mit Amber Pinkerton, online anrufbar unter: https://www.laramonro.com/words-with/amberpinkerton [zuletzt abgerufen am 08.12.21].
[8] Ullrich, W. (2019): Selfies. Wagenbach: Berlin, S. 17.