Mode Frühjahr 2021

Schlussverkauf, hybride Kleidung, Revenge Shopping

Im April 1968 zündete in der Kaufhof-Filiale an der Frankfurter Zeil ein Brandsatz, der einige Waren der Sportartikel-Abteilung versengte. Kurz vor dem Anschlag rief eine Frau – vermutlich Gudrun Ensslin – im Frankfurter Büro der Deutschen Presse-Agentur an und stellte klar: »Es handelt sich um einen politischen Akt.« Die Kritik der Neuen Linken an der deutschen Nachkriegsgesellschaft entlud sich ausgerechnet im Kaufhof, weil sie der Auffassung anhingen, dass die Unfreiheit der Arbeiterklasse wesentlich durch die Verführungen der Konsumkultur bedingt sei. Warenhäuser erschienen als Sinnbild der imperialistischen Unterjochung und planvollen Entfremdung der Bevölkerung von ihren »wahren Bedürfnissen«. Zugleich waren sie der konkrete Ort, an dem die »produzierten Waren Liebesblicke nach potenziellen Freiern« warfen (so Wolfgang Fritz Haug 1969) und sich die brutale Reduzierung alles Menschlichen auf Waren, Tauschwert und Kapital am deutlichsten zeigte.

Zudem stellten sie leicht erreichbare Ziele dar, deren Demolierung das konsumgeile Proletariat nun nicht mehr sanft bekehren, sondern an der empfindlichsten Stelle treffen sollte. Protagonisten diverser revolutionärer Gruppen hatten sich in den Wochen vor den Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen mit öffentlichen Ekelbekundungen über die »Konsumscheiße« und den substanzlosen »Fraß«, für den die Massen ihre spärliche Freizeit und das sauerverdiente Geld bereitwillig opferten, regelrecht überboten. Berühmt geworden ist ein Flugblatt der Berliner Kommune I, das die Losung ausgab: »Burn, warehouse, burn!«.

Wer dieser Tage noch Zerstörungsfantasien gegenüber Kaufhof hegt, dürfte zufrieden sein. Nach der Fusion mit dem wichtigsten Konkurrenten Karstadt zum Konglomerat GALERIA mutiert, liegt der Konzern am Boden. Im Juni dieses Jahres eröffnete die Warenhauskette die Insolvenz, kündigte weitreichende Schließungen und Entlassungen an. Nach wochenlangem Ringen schließlich ein kleiner Lichtblick: das inzwischen zum Glaspalast umgebaute Haus an der Frankfurter Zeil darf bleiben.

Das unbedingte Festhalten an einigen symbolträchtigen Flaggschiffen des Analog-Shoppings vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Warenhäuser schon seit geraumer Zeit nicht mehr dazu in der Lage waren, die »entfremdeten« Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Dieselben Eigenschaften, die Kaufhof et al. einst für die jungen Brandstifter als Anschlagsziel attraktiv gemacht hatten, besiegeln heute ihr Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. Das Versprechen, den aufstiegsorientierten Massen mittels Konsum die Teilhabe an einer auch politisch nivellierten Mittelstandsgesellschaft zu ermöglichen, verliert inmitten diffuser Sozialmilieus und des Hyperindividualismus seinen Reiz.

Dass man sich auch Konzepten, die man erkennbar nicht schätzt, auf sentimentale Weise verbunden fühlen kann, bewies in den letzten Jahren die Popularität aufwändig inszenierter Kostümdramen wie die Zola-Adaption »The Paradise« (2012) oder »Mr. Selfridge« (2013), deren Handlung teils in großen Warenhäusern spielt und sich ganz um deren Geschichte dreht (der dem Trend hinterherhinkende deutsche Sechsteiler »KaDeWe« ist seit Jahren in Planung). Es lässt sich vermuten, dass der Grund für den Erfolg der Serien jedoch nicht nur in der Sehnsucht nach den verlorenen Ritualen der Bourgeoisie zu suchen ist, sondern in der positiven Darstellung des Luxuskonsums zu Unterhaltungszwecken. Ähnlich wie ein paar Jahre zuvor die Produktion »Mad Men« trägt die extreme Ästhetisierung solcher ›period pieces‹ letztendlich dazu bei, die lustbetonten Konsumpraxen ihres Publikums zu normalisieren.

Der Mode kommt dabei als »des Kapitalismus liebstes Kind« (Sombart, 1902) stets eine Vorreiterrolle zu. Schließlich ist Modekonsum aus sozioökonomischer Perspektive per Definition immer ›unsinnig‹, da Selbstdarstellung, Distinktion und Transzendenz nicht zu den Existenzbedürfnissen gezählt werden. Für Konsumkritiker alter Schule wie Haug ist die Mode unter allen Konsumgattungen besonders verachtet – sie befördere die »Zeigelust« als »irrationalen Trieb des Individuums«.

Das Vorzeigen der Shopping-Trophäen spielt sich ebenso wie deren Jagd und Erbeutung allerdings immer seltenerinnerhalb der architektonischen Tristesse der Einkaufsstraßen ab. Besonders Modeprodukte wurden bereits vor der Corona-Einzelhandelsflaute des vergangenen Jahres bevorzugt online gekauft. Mit der Verlagerung der Konsumsphäre aus dem Realraum der Stadt in den Imaginationsraum des Internets fielen auch die letzten Schranken zwischen Wille und Wirklichkeit: Der prüfende Abgleich des Anprobieren unter tendenziell demütigenden Beleuchtungsbedingungen gehört dadurch der Vergangenheit an. In einem Blogbeitrag für das Branchenprotal profashionals.de schreibt der Trendforscher Carl Tillessen: »Wir kau­fen immer öfter Klei­dung, die wir nicht in real life gese­hen haben, son­dern nur auf Fotos im Netz. Und wenn wir sie dann haben, tei­len wir unse­re Freu­de dar­an wie­der­um nicht, indem wir sie unse­ren Bekann­ten in echt zei­gen, son­dern indem wir Bil­der davon pos­ten.« Mode wandelt sich von einer räumlich-taktilen Entität zu etwas Zweidimensionalem, dessen Ursprungs- und Bestimmungsort sich auf den Bildschirmen der mobilen Endgeräte überlagert.

Eine Kernerrungenschaft der Warenhäuser immerhin ließ sich ins digitale Zeitalter nicht nur hinüberretten, sondern sogar erheblich ausweiten: der Schlussverkauf. Bis 2004 unterlagen Preisnachlässe in Deutschland noch einem strikten Reglement, das der jahreszeitlichen Dramaturgie der Mode und der wirtschaftlichen Lagerungslogik folgte. So durften nur »saisonabhängige Waren« wie Sommer- und Winterkleidung zweimal im Jahr für wenige Tage zu reduzierten Preisen abverkauft werden, um Platz für neue Modeartikel zu schaffen. Seitdem hat sich nicht nur das Angebot im Modehandel vervielfacht – statt zwei ›großer Saisons‹ bieten die Fast-Fashion-Dealer mehrmals pro Woche neue Waren an. Auch Preissenkungen können nun jederzeit erfolgen. Mit dem Wegfall der »Verordnung über Sommer- und Winterschlussverkäufe« näherte man sich weiter amerikanischen Verhältnissen an; in den USA sind die schreiend roten »Slashed Prices« (also in Splatter-Manier dahingemetzelten Preise) längst zu jeder Jahreszeit Standard.

Gilt Shopping im Diskurs der bürgerlichen Medien schon im Normalfall als unselige Verquickung von Infantilismus, Entfremdung und Triebsteuerung (›Shopping-Wahn‹), so wird der gesteigerte Konsum im Schlussverkauf als regelrecht pathologisch wahrgenommen. Bereits 1884 beschrieb Emile Zola in »Das Paradies der Damen« Kundinnen, die im Schlussverkauf ruinöse Summen für unnützen Tand verplemperten und dabei »die verzerrten Züge, die geweiteten Augen einer Kranken« hätten.

Schlimmster Fiebertraum konsumkritischer Geister ist jedoch ein weiterer Import aus den Staaten: Der »Black Friday« findet dort seit den 1950er Jahren traditionsgemäß am Freitag nach Thanksgiving statt und soll dem Namen nach den Tag markieren, an dem der Handel nach zehnmonatiger Flaute zum Auftakt des Feiertagsgeschäfts erstmals schwarze Zahlen schreibt. Seit 2006 sorgt der »Black Friday« auch in Deutschland mit zahlreichen Sonderangeboten für Rekordumsätze und wird vom Feuilleton als »Feiertag des hemmungslosen Konsums« (»Zeit«) gewohnt pietistisch-abwertend geframed. Die Autor:in Hengameh Yaghoobifarah weist in der »taz« vom 28.11.2019 darauf hin, dass die alljährliche »Kapitalismus-Dresche« in Wahrheit einen anderen Hintergrund habe: »Hinter der moralischen Verdammung des Black-Friday-Konsums verbirgt sich häufig Klassenhass, mindestens jedoch peinlich verkürzte Konsum- und Kapitalismuskritik.«

2010 wurde in Deutschland schließlich noch der »Cyber Monday« eingeführt, in den USA bereits 2005, der sich auf keine irgendwie geartete Tradition berufen kann, sondern lediglich den Zweck erfüllen soll, Menschen zum Online-Shopping zu animieren. Etwas, das mit Blick auf die gegenwärtige Lage ungefähr so sinnvoll erscheint, wie Eulen nach Athen zu tragen.

Nun vermitteln extreme Preisnachlässe gerade im Mode- und Lifestyle-Segment nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Wertreduzierung. In seinem 2020 erschienen Buch »Konsum. Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen« schreibt Carl Tillessen: »Mit dem Preis der Dinge fällt schlagartig auch unsere Wertschätzung der Dinge.« Gerade Reduzierungsschlachten wie der »Black Friday« würden das ungute Gefühl aufkommen lassen, »dass all diese Dinge vorher viel zu teuer und ihren Preis sowieso nicht wert waren«.

In der Volkswirtschaft kennt man den »Veblen-Effekt«, benannt nach dem Ökonomen und Soziologen Thorstein Veblen, der 1899 in seiner »Theory of the Leisure Class« eine erste und immer noch treffende Analyse der bourgeoisen Lust am verschwenderischen Modekonsum lieferte. Der »Effekt« besteht darin: Preissenkungen bremsen die Lust am Kauf von Luxusprodukten, Preiserhöhungen steigern sie.

Fragt man nach dem Wert eines Kleidungsstückes, könnte nach marxistischem Verständnis zwischen Gebrauchswert und Tauschwert unterschieden werden. Als Folge diverser sozialer und technologischer Entwicklungen des letzten Jahrhunderts tendiert der praktische Gebrauchswert der Kleidung jedoch mittlerweile gegen null. Verschleiß findet nicht mehr statt, dennoch werden die älteren Sachen aussortiert. Auch der Versuch, den symbolischen Gebrauchswert von Kleidung mit ihrem ökonomischen Tauschwert gleichzusetzen, funktioniert in der gegenwärtigen Modewelt nur noch teilweise, weil astronomisch hohe ebenso wie schleuderhaft billige Preise den Markt längst nicht mehr entlang sozialer Schichten segmentieren, sondern nebeneinander existieren.

Die Modejournalistin Irina Aleksander beschreibt 2020 in einem Artikel für die »New York Times«, wie die Praxis der Luxusanbieter, ihre Preise bereits während der laufenden Saison zu reduzieren, die Kundschaft darauf konditioniert habe, nur noch im Sale zu kaufen. Dies habe  dazu geführt, dass die im Januar ausgelieferte Sommerkollektion bereits verbilligt zu kaufen war, noch bevor das Wetter einem das Tragen erlaubte. Auf die ökonomisch gestiftete Entkoppelung der Modeprodukte von Saison und Zweck hätten sich als Reaktion oder Überformung neue, hybride Kleidungsgegenstände herausgebildet, die Aleksander »Frankenstein clothing« nennt: z.B. ärmellose Mäntel oder Stiefel mit abgeschnittener Kappe, die in nackten Zehen enden.

Rückblickend wirkt diese Entwicklung als Beweis der Gabe »außerordentlicher Antizipationen«, die bereits Walter Benjamin der Mode attestierte. Im zurückliegenden Jahr gebar die aus der Covid-19-Pandemie resultierende Schwemme der Zoom-Konferenzen schließlich eine neue Kategorie: »Bastard-Mode«, auch als »Business on Top, Party on the Bottom« bezeichnet – die Kombination aus legerer Beinkleidung mit bürotauglichen Oberhemden oder Blusen.

Das berühmte Lagerfeld-Bonmot von der Jogginghose als Symptom des Kontrollverlusts wurde 2020 viel zitiert, wenn es um die Mode ging. Dabei ist es gerade das Klischee-Kleidungsstück der Depressiven, das die Branche teilweise retten konnte. Im August vermeldete die »New York Times«, die Modeumsätze in den USA seien seit April um etwa 80 % gesunken – der schwerste Einbruch seit Beginn der Aufzeichnungen –, im gleichen Zeitraum jedoch der Absatz an Jogginghosen um 80 % gestiegen.

Für Fans formeller Kleidung, ebenso für den gebeutelten stationären Modehandel, zeichnet sich dennoch bereits ein schwacher Silberstreifen am Horizont ab: Im April 2020 nahm der nach dem strengen Lockdown gerade erst wiedereröffnete Flagshipstore des französischen Luxusmodehauses Hermès im chinesischen Guangzhou an einem einzigen Samstag rund 2,5 Millionen Euro ein. In der Branche spricht man bereits von »Revenge Shopping«, einer nahenden Einkauforgie, die als eine Art Revanche für die Entbehrungen der Pandemie-Zeit für Aufschwung sorgen werde.

Diese neomoderne Wendung übertrifft noch die neomarxistische Horrorvorstellung einer im Konsumkoma träge auf den eigenen Untergang zudümpelnden Menschenrotte. In Europa und den USA wird aber das große Einkaufen wohl auch ohne ein Ende der Corona-Restriktionen erst einmal weitergehen, weil für die nächsten Monate mit spektakulären Schlussverkäufen – auch in Folge zahlreicher Geschäftsaufgaben – zu rechnen ist. Wer angesichts der angespannten Weltlage die vom »Spiegel« zum neuen Trendgefühl ausgerufene »Shopping-Scham« verspürt, den tröstet vielleicht der folgende Gedanke: Wohl denen, die in der auf die ökonomische Apokalypse unweigerlich folgenden Tauschwirtschaft auf ein gut gefülltes Arsenal begehrlicher Waren zurückgreifen können.

Erschienen in POP Kultur & Kritik Heft 18/2021