F. für Forever
Postergirl der Kaputtheitsromantik
High Heels auf Linoleum: ein Gruppe Kids rennt durch ein nächtliches Einkaufszentrum, sie rutschen aus, fallen, stehen wieder auf, laufen weiter. Glas zerbricht, Geldstücke fallen wie Regen. Vor den eintreffenden Cops flüchtet die Gruppe aufs Dach des Gebäudes, sie lachen und rauchen, während über ihren Köpfen ein leuchtender Mercedes-Stern Runde um Runde dreht und die Stadt unter ihnen in der aufziehenden Dämmerung langsam erwacht. Sie sind jung, sie sind am Leben und sie wissen: diese Nacht, diesen Morgen kann uns niemand nehmen. Und doch liegt über allem wie ein feiner Nebel die Gewissheit, dass es schlimm enden wird. Dieser Weg kann nur nach unten führen.
Der Film Wir Kinder vom Bahnhof Zoo aus dem Jahr 1981, aus dem die Szene stammt hat eine Ästhetik des Absturzes geschaffen, die in den folgenden Jahrzehnten nicht nur wesentlich zur Anziehungskraft der Feiermetropole Berlin beitragen sollte, sondern ein ganzes Genre schuf. Filme wie Kids (1995) und Springbreakers (2012) von Harmony Korine oder Trainspotting (1996) von Danny Boyle zeichneten das bedrückende Bild einer entfremdeten Wohlstandsgesellschaft, in deren Mitte halbe Kinder sich im Rausch selbst zerstörten und dabei wahnsinnig cool aussahen.
Anders als die nachfolgenden Filme, basierte Wir Kinder vom Bahnhof Zoo auf der wahren Geschichte von Christiane Felscherinow. Als Kind war sie mit ihren Eltern aus einem Dorf bei Hamburg nach West-Berlin in das Hochhaus-Ghetto Gropiusstadt gezogen, wo sie sich zuerst in die Musik von David Bowie, dann in die Droge Heroin verliebte. Geschichte wie ihre gab es zu dieser Zeit viele. Was Christiane besonders machte war vielleicht nur, dass sie hübsch war und mit 15 Jahren noch aussah wie eine Porzellanpuppe mit großen traurigen Augen. Als sie 1978 vor Gericht eine Aussage machte, wurde sie von zwei Reportern entdeckt, die ihre Geschichte aufschrieben und daraus einen Bestseller machten.
Mein erster Kontakt mit Christiane F. fand ausgerechnet im Religionsunterricht statt. Und wem das heute komisch vorkommt, der hat die 1980er Jahre vermutlich nicht miterlebt. Die sozial engagierte Lehrerin trug eine Friedenstaube aus Emaille am Pulli und glaubte, uns durch die Lektüre auf den Pfad der Tugend leiten zu können. Ein fataler Irrtum, denn alles, was das Buch in mir auslöste war der dringende Wunsch, aus der elenden Provinz sofort nach West-Berlin abzuhauen, um dort in die dreckige Glitzerwelt abzutauchen wie Christiane und ihre Freunde.
Doch erst die Verfilmung machte aus dem abschreckenden Beispiel Christiane Felscherinow endgültig die Ikone Christiane F., für deren Rolle Regisseur Uli Edel die damals erst 13-jährige Nadja Brunckhorst als Darstellerin engagierte. Wie vollkommen Brunckhorst Christiane F. verkörperte zeigt sich auch daran, dass die Schauspielerin danach nie wieder in einem anderen Part wirklich überzeugen konnte. Christiane F. forever.
Unglaublich dünn, das herzzerreißend schöne Gesicht von matten strähnigen Haaren umrahmt, personifizierte sie einen Typus, der später als Heroin-Chic für Schlagzeilen sorgen sollte und bis heute nicht aus der Mode gekommen ist. Überhaupt Mode: zu den wohl wichtigsten und dabei total unterschätzen Leistungen des Films zählt das Styling der Kostümbildnerin Myrella Mondriaan, die für Christiane F. praktisch ohne Budget einen ikonischen Signature-Look entwarf: hautenge Jeans, silberne High-Heel-Sandalen (mit Socken!) und eine College-Jacke auf deren Rücken sie eigenhändig den Schriftzug BOWIE klebte.
Mondriaan, die an der Berliner Schaubühne als Kostümbildnerin arbeitete, war privat viel im Nachtleben und in Subkulturen Berlins unterwegs. Viele Kleidungsstücke, die Christiane und ihre Freunde im Film trugen, stammten aus ihrem eigenen Kleiderschrank, waren von bekannten ausgeliehen oder wurden in Sozialläden oder auf Flohmärkten zusammengekauft. Sie erinnert sich daran, wie schwierig es war, Nadja Brunckhorst einzukleiden: „Sie war so dünn, dass wir ihren BH ausstopfen mussten und unter ihren Jeans trug sie lange Thermo-Unterhosen.“
Auch wenn es merkwürdig anmutet, ausgerechnet in diesem Fall von „Lebensgefühl“ zu sprechen, so transportiert der Film Wir Kinder vom Bahnhof Zoo doch eine einzigartige Stimmung, ein wehmütiges Freiheitsgefühl, das sich auch in den Bereich der High Fashion übersetzen lässt.
Für die Frühjahr/Sommer-Kampagne 2016 von Gucci ließ Kreativchef Allessandro Michele die eingangs beschriebene Szene von Models an Originalschauplätzen in Berlin nachspielen. Wieder rannten dünne Teenager durch die Einkaufspassage im Europa-Center, fielen hin, rappelten sich auf und liefen weiter. Nur diesmal trugen sie dabei opulent bestickte Glamrock-Anzüge und transparente Glitzerkleidchen. Die Schlussszene wurde allerdings auf das Dach des Maritim-Hotels verlegt und auch sonst kam der kurze Fashion-Film ohne Kleinkriminalität und sonstige Abgründe aus. Beim Ansehen kann man Michele förmlich sagen hören: „Der Look von Detlef und Christiane ist amazing – nur das mit dem Heroin hätten sie sein lassen sollen.“
Etwas derber und authentischer abgefuckt ging Designer Raf Simons es dann zwei Jahre später in seiner Herbst/Winter-Kollektion 2018 unter dem Titel Youth in Motion an. Er schickte seine obligatorisch blassen und schlechtgelaunten Models in Oversize-Shirts über den Laufsteg, die mit dem Konterfei Brunckhorsts in ihrer Rolle als Christiane F. oder einfach dem Schriftzug DRUGS bedruckt waren.
Man kann es zynisch nennen, das Leid von Menschen zu glamourisieren, um damit Geld zu verdienen. Diesen Vorwurf musste sich Regisseur Uli Edel bereits zum Filmstart 1981 gefallen lassen und auch in der Modebranche gab es bereits zahlreiche Empörungswellen, die von Kate Moss’ Augenringen bis hin zu Jeremy Scotts „Just say MoschiNO“-Kollektion reichten, in der der Designer auf der Höhe der US-amerikanischen Opioid-Krise Handtäschchen in Pillendosen-Form präsentierte.
Die Ausbeutung und Banalisierung subkultureller Zeichensysteme hat in der Mode seit Jahrzehnten System. Jugendliche, die keinen Platz in der Gesellschaft finden, werden zu Stilvorlagen, deren rebellische Attitüde man sich so einfach kaufen kann wie ein paar neue Jeans. Gleichzeitig basiert die Strahlkraft der Figur Christiane F. nur zu einem kleinen Teil auf der real existierenden Person Christiane Felscherinow. Der Film Wir Kinder vom Bahnhof Zoo hat sie zu einer fiktiven Figur gemacht, einer schillernden Projektionsfläche für den Wunsch, auszubrechen und sich selbst zu verlieren im Exzess der Nacht.
Vergesst Techno, vergesst die Love Parade, vergesst auch das Berhghain: Christiane F., dargestellt von Nadja Brunckhorst, gefilmt von Uli Edel und gestylt von Myrella Mondriaan bleibt das ultimative Postergirl einer popkulturellen Kaputtheitsromantik von der längst eine ganze Industrie lebt
. Da verwundert es auch nicht, dass die Instagram-Generation, ihre spezielle Ästhetik gerade wiederbelebt, bringt sie doch im Kern deren Credo auf den Punkt: jung zu sein und wunderschön und nur den einen Moment zu leben, der eigefroren als Bild für die Ewigkeit dauert.
Auf dem Europa-Center am Breitscheidplatz in Berlin, dreht sich der Mercedes-Stern unterdessen weiter. Nicht weit entfernt liegen dort heute Blumen auf den Stufen der Gedächtniskirche, dort wo der Terrorist Anis Amri am 19. Dezember 2016 einen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt lenkte und 12 Menschen tötete. Es ist eine andere Zeit, schwieriger und beängstigender als die alte. Es ist eine andere Stadt. Aber irgendwo in ihren Straßenzügen lebt immer noch Christiane Felscherinow, die für kurze Zeit ein Star war. Bis sie sich in den Blicken der Öffentlichkeit aufgelöst hat in einer stilisierten Version ihrer selbst, die ihre Züge trägt und doch wieder nicht. Aber jedes Mal, wenn eine Gruppe junger Menschen mit verklebten Haaren und verschmierter Schminke aus einem Club stolpern und kurz innehalten, um die Sonne aufgehen zu sehen, ist sie dabei. Christiane F. forever.
Erschienen in Numéro Berlin 11/2019