Abgrund & Oberfläche

Fortschreitende Muschisierung

Vielleicht begann alles damit, dass die Mobiltelefone größer wurden als die Brusttasche einer Jeansjacke. Wer so unklug ist, sein Haus zu verlassen und sich gleichzeitig in relevanten digitalen Zusammenhängen fühlen möchte, hat zwangläufig ein Transportproblem. Dinge müssen verstaut und zu allen Zeiten am Körper geführt werden.

Dabei stellt die Wahl der richtigen Tasche kein geringes Problem dar. Eine Tasche ist ein Bekenntnis. Ihre spezifische Beschaffenheit fungiert als Orakel, das nicht nur Rückschlüsse auf die individuelle psychische Verfasstheit der Wirtsperson zulässt, sondern auch anzeigt, wohin wir uns als Gesellschaft bewegen. Die Generation Jutebeutel ist passé, Einsamkeit wird in Plüschtieren pro Rucksack bemessen und die Brennholztasche aus Leinen (Preis: 69 Euro) aus dem Herbst/Winter-Katalog von Manufactum bereitet uns schonend auf die der nahenden Apokalypse unweigerlich folgende Tauschwirtschaft vor.

Dazu passt der aktuelle Trend Gorpcore, der alles was praktisch, wind- und wasserabweisend ist feiert: Klettverschlüsse, Fleece, Nylon. Inspirationsquelle ist mal wieder der Prototyp des

US-amerikanischen Touristen der neunziger Jahre, dessen Look aus Turnschuhen, Jeans und T-Shirt bereits 2014 einen kurzen aber heftigen Modehype auslöste. Unter dem Schlagwort Normcore wurde der Normalo-Style kurz als Ausdruck einer postindividuellen Befindlichkeit gefeiert: Konformität war die neue Extravaganz, Community die neue Ego-Abfahrt.

Das Lieblingsaccessoire der Gorpcore-Anhänger spricht jedoch eine ganz andere Sprache. Das körpernahe Umschnallen von Wertgegenständen ist als Kulturtechnik von einem tiefen Misstrauen gegenüber Fremden geprägt, denen kollektiv unterstellt wird, einem ja doch nur an die die traveller checks zu wollen.

Eine freshe Injektion Coolness erhielt der Moneybelt als fester Bestandteil der Festival-Uniform, die das erhöhte Sicherheitsbedürfnis ihrer Träger kurzerhand zum Freiheitswillen umdeutete, die Hände zu jeder Zeit ravend in die Höhe erheben zu können.

Korrespondierend wurden die eher unschönen Bezeichnungen Bauch- oder Gürteltasche durch den Hashtag Muschibeutel ersetzt, dessen erweiterter Bedeutungshorizont nicht nur sprachpolitisch problematisch, sondern zudem ethymologisch völlig unklar ist.

Theorie 1: Freud’sche Fehlleistung. Eine falsche Übersetzung des in Nordamerika gebräuchlichen Fanny Pack, für den nicht das weibliche Geschlechts-, sondern das geschlechtsneutrale Hinterteil Pate stand. Muschi bedeutet Fanny dagegen nur in England, wo das Ding jedoch als Bum Bag firmiert. Alternative: die Arschtasche.

Theorie 2: Gender Mainstreaming. Muschi als körperkartografische Markierung. Positiv zu vermerken ist dabei, dass der weibliche und nicht die männliche Physis als Standard gesetzt wird. Alternative: der Sacksack.

Theorie 3: Psychoanalyse. Freud deutete die Tasche als Vaginalsymbol.  Ebenso wie übrigens das Dreieck, jener im letzten Jahrzehnt bei Trendaffinen deutlich populärsten der geografischen Formen. Alternative: deine Mudder!

Theorie 4: Muschi als abwertender Begriff, der cis-männliche Träger verunglimpfen soll (vergleiche: schwul). Alternative: die Kotztüte.

Theorie 5: Freud war Sexist. Genitalhumor hat an genderneutralen Klowänden nichts verloren. Trendtier 2017 ist übrigens das Kurzschwanzkänguru Quokka. Alternative: Mimimi.

Das Verspüren einer emotionalen Bindung zu Säcken aller Art, die Selbstinszenierung qua Tasche, wird traditionell der Frau zugeschrieben. Als Herrschaftsraum versinnbildlicht der Muschibeutel daher die Instabilität hegemonialer Männlichkeit. Letztlich spielt es keine Rolle, ob das M-Wort zur Ironisierung oder Selbstermächtigung eingesetzt wird. Sprache konstruiert Realität. Es hat keinen Zweck, sich gegen die Muschisierung zu wehren. The future is female, baby!

Unbehaglich bleibt der ästhetische Aspekt. Wer sich zur kulturellen Speerspitze, statt zum trüben Heer der Lemminge zählen möchte, für den bleibt in diesem Winter als einzig würdevolles und dabei angemessen apokalyptischer Transportbehältnis der Zukunft nur die Plastiktüte. Natürlich Vintage, von Kaisers.

 

Spex, No. 377, November/Dezember 2017