Somästhetik

Mode, Drogen & Depression

Unter dem Motto »Just say Moschino« präsentierte der Kreativchef des Labels Jeremy Scott im Frühjahr 2017 eine sogenannte »Capsule Collection«, worunter man in der Branche eine außerhalb der großen Saisons gelaunchte, auf einige Keypieces beschränkte Minikollektion versteht. Nicht nur, dass der Designer bereits im Titel den Slogan des US-amerikanischen »War on Drugs« der 1980er und frühen 1990er Jahre (»Just say no«) persiflierte, zudem interpretierte er das modische Genre der Kapselkollektion auf ironisch buchstäbliche Weise, indem er bunte Pillen zum Leitmotiv seiner Entwürfe machte. Unter anderem zeigte Scott eine skulpturale Handtasche, die eine Nachbildung der zylindrischen orangefarbenen Plastikdöschen darstellte, in denen Apotheken in den USA verschreibungspflichtige Medikamente ausgeben. Neben aufgedruckten Warnhinweisen, die enthaltenen Tabletten nicht in Kombination mit Alkohol zu konsumieren, war die Tasche mit goldfarbenen, lederdurchflochtenen Kettenriemen versehen, eine wiederum ironisch gebrochene Pastichierung des ikonischen Handtaschenmodells 2.55 von Chanel.

Der kalkulierte Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Der Sozialarbeiter Randy Anderson startete eine Online-Petition, die zum Boykott von Moschino aufrief und binnen weniger Tage mehr als 1.500 Unterschriften sammelte. Die Luxusanbieter Nordstrom und Saks Fifth Avenue gaben dem öffentlichen Druck nach und nahmen die Teile aus dem Verkauf. Zwar spezifizierten Scotts Entwürfe nicht, welche Art von Medikamenten die stilisierten Pillenverpackungen enthalten sollten, aber für das Heer der Empörten stand schnell fest, dass es sich bei der Kollektion um eine zynische Glamourisierung der Einnahme von Opioiden, also starker Schmerzmittel, deren Wirkung mit der von Heroin vergleichbar ist, handelte.

Tatsächlich erreichte die mediale Hysterie um die US-amerikanische »Opioid Crisis« etwa um dieselbe Zeit ihren Höhepunkt: eine 2017 veröffentlichte Studie resümierte, dass die Zahl der jährlichen Todesopfer, die durch den Missbrauch opioider Schmerzmittel verursacht wurden – von der Pharmaindustrie aggressiv unter Markennamen wie OxyContin, Vicodin, Percocet oder Fentanyl vertrieben –  in der Zeit zwischen 2000 und 2016 um über 500 Prozent gestiegen war. Besonders hart betroffen waren davon die sogenannten Millennials, also die zwischen 1980 und 2000 geborene »Generation Internet«.

Einiges deutet jedoch darauf hin, dass Scotts modische Pillen-Referenzen von einem bis dahin weniger bekannten Nischenhype um angstlösende Mittel aus der Gruppe der Benzodiazepine inspiriert wurden. Besonders um das Medikament Xanax, das in den USA pro Jahr etwa 50 Millionen Mal zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen verschrieben wird, hatte sich bereits einige Jahre vor der Lancierung der skandalösen »Capsule Collection« von Moschino auf hauptsächlich von Millennials genutzten Social-Media-Plattformen wie Tumblr oder Instagram ein regelrechter Kult gebildet. Unter Hashtags wie #sadgirl, #broken oder #mymeds wurden Bilder der riegelförmigen, in vier Abschnitte gegliederten Tabletten gepostet, oft als Teil mädchenhafter Inszenierungen, etwa in herzförmigen Pillendöschen, in Verbindung mit Einhorn-Kuscheltieren oder Produkten der Marke »Hello Kitty«. Auf der E-Commerce-Website Etsy findet man unterm dem Suchbegriff Xanax eine Vielzahl von liebevoll in Kleinstauflagen produzierter Accessoires, wie Seifen, Ketten- oder Schlüsselanhänger in Pillenform.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Jeremy Scott sich bei stilprägenden Elementen der »Vaporwave«-Ästhetik, einer schwer definierbaren netzbasierten nihilistisch-hedonistisch geprägten Jugendkultur, bediente. Bereits seine unter dem eigenen Label erschienene Herbst/Winter Kollektion 2012, eine eklektische Mischung aus Regenbogenfarben, grob gepixelten Smileys und Bart-Simpson-Prints, musste sich aus der Szene den Vorwurf gefallen lassen, die Social-Media-Accounts von Teenagern auszubeuten, deren Traurigkeit und Weltverzweiflung ihren Ausdruck in einer Regression in tröstende Popkultur-Versatzstücke der eigenen Kindheit fanden.

Als expliziter Modestil tauchte der Pharmazie-Look erstmals 2015 in Japan unter der Bezeichnung »Yami-Kawaii« auf. Der Begriff »Kawaii« bedeutet niedlich oder auch kindlich und ist fester Bestandteil der Manga-Kultur mit populären großäugigen Figuren wie Pokémon oder Sailor Moon. Die japanische Leidenschaft für Niedlichkeit brachte bereits diverse jugendkulturelle Stile wie »Lolita« oder »Decora« hervor. Die Bezeichnung »Yami« steht dagegen für krank oder auch behandlungsbedürftig. Anhängerinnen des Stils (es sind in der Mehrzahl Mädchen) dekorieren ihre Gesichter mit Heftpflastern, tragen Ohrringe in Spritzenform und Kleidchen, auf die pastellfarbige Pillen gedruckt sind. Vielleicht überraschenderweise wurde dieser Microtrend von der westlichen Modepresse überwiegend als zwar verstörend aber grundsätzlich positiv bewertet, da er die in Japan immer noch tabuisierten Themen psychischer Krankheiten und der seit Jahren steil ansteigenden Suizidrate bei jungen Erwachsenen thematisieren würde.

Doch auch in den westlichen Nationen schlagen Experten für psychische Gesundheit Alarm: wiederum sei es die Gruppe der Millennials, unter denen die Zahl der diagnostizierten depressiven Erkrankungen am schnellsten ansteige, seit 2013 um etwa 50 Prozent. Die Journalistin Emma Garland prägte 2017 in einem Artikel für das Magazin Vice den Begriff »Xanxiety« und argumentierte, dass die Popularität des Medikaments Xanax auf spezifische Probleme der der Millenials, wie deren zunehmende Vereinsamung durch die Verlagerung sozialer Kontakte ins Netz und ökologischer sowie ökonomischer Zukunftsängste, zurückzuführen sei. Garland beschrieb Xanax als »a cheap and instant Band-Aid for a problem too vast to have a solution«.

Es passt zur immer wieder zugeschriebenen Genderfluidität dieser Generation, dass das wohl bekannteste #sadgirl ein junger Mann war, der den Schriftzug »Cry Baby« über der rechten Augenbraue auf Stirn und Schläfe tätowiert trug. Lil Peep war einer der Protagonisten einer neuen Jugendsubkultur um »Soundcloud«- oder »Emo-Rap«, einem Musikstil, der Hip-Hop-Elemente mit düster-emotionalen Lyrics verbindet und deshalb auch als »sad rap« bezeichnet wird. Das Video zu seinem Song »Awful Things« wurde auf Youtube mehr als 130 Millionen Mal angesehen. Es zeigt ihn auf dem Rücksitz eines Autos auf dem Weg in die High School, wo er sich in Folge mit sadistischem Lehrpersonal sowie zombiefizierten Teengirls herumschlagen muss. Ein kurzer Schwenk in den Fußraum des Wagens offenbart dutzende eben jener orangefarbenen Pillendosen, die Jeremy Scott zu seinem eingangs beschriebenen Handtaschenentwurf inspirierten. Im November 2017 verstarb er zwei Wochen nach seinem 21. Geburtstag an einer Kombination der Medikamente Xanax und Fentanyl. Vier Monate vor seinem Tod war Lil Peep zu Gast bei der Pariser Fashion Week. Es gibt Fotos, die zeigen, wie er in einer mit goldenen Nieten besetzten Jacke des Labels »Balmain« neben Catherine Roitfeld, der ehemaligen Chefredakteurin der französischen »Vogue«, in der Front Row sitzt. Lil Peeps älterer Bruder gab den Medien später eine Mitschuld an seinem Tod indem er sagte, sein Bruder wäre »dafür bezahlt worden, traurig zu sein».

Natürlich ist weder die Faszination für Suchterkrankungen, noch das Schwärmen für Personen mit psychischen Problemen ein neues Phänomen in der Mode oder der Popkultur allgemein. Es gibt zahllose Beispiele von Künstlern, deren früher Tod durch Suizid oder einer Überdosis von Drogen oder Medikamenten als tragische Konsequenz eines genialischen Talents romantisiert wurde. Die Mitglieder des »Club 27«, Michael Jackson oder der Designer Alexander McQueen seien hier nur als einige augenfällige Beispiele genannt. Einen wichtigen Aspekt der Anziehungskraft dieser Figuren bildet das, was Susan Sonntag in ihrem Aufsatz »Illness as a Methaphor« aus dem Jahr 1978 als »the nihilistic and sentimental idea of ›the interesting‹« bezeichnet hat. Die Vorstellung also, dass Krankheit auf ein schillernd-komplexes Innenleben verweise – Sontag wählte den Begriff des »interiour décor of the body« – während Gesundheit im Vergleich als banal und vulgär empfunden werden würde.

In der jüngeren Modegeschichte lassen sich einige »Skandalkollektionen« finden, die mit subkulturellen Ästhetiken kokettieren, die stark mit dem Konsum von Drogen assoziiert werden. Darunter Raf Simmons’ Herbst/Winter-Kollektion 2018, die Kleidungsstücke im Farbton »Pillendosen-Orange« zeigte, die mit dem Schriftzug »Drugs« oder Bildern der Schauspielerin Nadja Brunckhorst in ihrer ikonischen Rolle als Teenager-Junkie Christiane F. in dem Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« aus dem Jahr 1981 versehen waren. Ein weiteres Beispiel bildet die Frühjahr/Sommer-Kollektion 1993 von Marc Jacobs, die wegen»drogenverherrlichender« Referenzen zur »Grunge«-Subkultur dafür sorgte, dass Jacobs seinen Posten als Chefdesigner für das Label Perry Ellis verlor. Im Herbst 2018 legte Jacobs 26 Looks der Original-Kollektion unter dem Namen »Grunge Redux« neu auf.

Der Überbegriff »Drogenmode« übersieht jedoch, dass die Wirkung psychotroper Substanzen und damit die prägenden Gefühlswelten der jeweiligen Jugendkulturen äußerst divers sind. Das Forschungsfeld der Somästhetik wurde Ende der 1980er Jahre von dem US-amerikanischen Philosophen Richard Shusterman begründet. Der Ansatz begreift den menschlichen Körper und seine psychosozialen Zustände als Ort der Ausprägung ästhetischer Vorlieben. Shusterman geht davon aus, dass die subjektiven Erfahrungen des Leibes, als Vermittlerinstanz zwischen Denken und Fühlen, Kultur und Kreatur, noch vor visuell geprägten Klischees von Kunst und Design die Hinwendung zu bestimmten Formen, Farben und Materialien bestimmen würden. Es gibt nur wenige belastbare Daten zum Einfluss psychischer Gesundheit auf die Mode. Eine klinische Studie aus dem Jahr 2012 kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass Patientinnen und Patienten mit Depressionen locker sitzende Kleidung aus weichen anschmiegsamen Stoffen in gedeckten Farben bevorzugen würden. Nicht ganz zufällig liest sich das wie eine Beschreibung der »Yeezy Season 1«-Kollektion des zum Modedesigner aufgestiegenen Rappers Kanye West aus dem Oktober 2015. West, der sich im November 2016 wegen nicht weiter benannter »Stress-induzierter« Probleme in klinische Behandlung begab, zeigte ausschließlich übergroße schwarze, schlamm- und hautfarbige Kleidungsstücke in jener dicken, kuscheligen, innen aufgerauten Baumwoll-Sweat-Qualität, die auch zur Anfertigung von Jogginganzüge – dem Klischee-Kleidungsstück der Depressiven – verwendet wird. Auch die niederländische Trend-Forscherin Li Edelkoort stellte in ihrem Forecast für das Jahr 2019 einen Zusammenhang zwischen dem psychischen Befinden der Millenials und dem anhaltenden Trend zu Oversize-Mode her, indem sie anführte, dass junge Konsumenten heute »mehr Angst als je zuvor« hätten und Designer deshalb Kleidung entwerfen würden, »die Menschen beschützt und in der man sich verstecken kann«.

Der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Mohr verknüpfte in seinem 2014 erschienenen Buch »Ökonomie mit Geschmack. Die postmoderne Macht des Konsums« psychosoziale Zustände mit der somästhetischen Wirkung aufputschender und beruhigender Drogen, sogenannter »Upper« und »Downer«, als determinierende Faktoren diametral gegenübergestellter Lebens- und Konsumstile. Mohr beschrieb den Effekt von Stimulanzien wie Amphetaminen oder Kokain als »Überinteressiertheit« und damit als einen Zustand, der perfekt zur »Leistungsethik« neoliberaler Gesellschaften passen würde. Die somästhetische Erfahrung von Seditiva wie Opioiden oder dem Angstlöser Xanax könne dagegen mit «Uninteressiertheit« beschrieben werden, einer tendenziell antikapitalistischen Haltung, welche das individualisierte Wohlbefinden dem Erreichen von sozialen Prestige vorziehe.

Diese Einschätzung wurde von einer Handvoll Modeblogger und -Bloggerinnen, die laut Selbstaussage von einer »bipolaren Störung« betroffen sind, bestätigt. Sie beschrieben übereinstimmend, dass ihre modischen Vorlieben sowie ihr Konsumverhalten sich während manischer und depressiver Episoden stark unterscheide. Während erstere das Einkaufen neuer Kleidungsstücke, ebenso wie eine Vorliebe für enganliegende und den Körper in sexueller Weise zur Schau stellender Mode begünstigen würden, führten letztere dazu, sich eher für eine Uniformierung übergroßer, den Körper verhüllender und möglichst bequemer Kleidung zu entscheiden.

Der unter anderem von der Autorin Katie Conibear im Oktober 2017 in der»Huffington Post« aufgeworfenen Frage, ob das medienträchtige Hausieren mit Diagnosen wie »Bipolar Disorder« an sich bereits ein »modisches« Phänomen darstelle, oder ob psychische Krankheiten wie  Depressionen oder Angstzustände letztendlich nachvollziehbare Reaktionen auf konkrete zeitgenössische Probleme darstellten, wie es etwa der US-amerikanische Soziologe und Psychiater Allan V. Horwitz in seinem 2002 erschienenen Buch »Creating Mental Illness« beschreibt, lässt sich an dieser Stelle nicht in der erforderlichen Tiefe diskutieren.

In Bezug auf die gegenwärtige Modelandschaft lassen sich jedoch einige Phänomene ausmachen, die perfekt zur somästhetischen Sphäre der depressiven »Uninteressiertheit« zu passen scheinen. Dazu zählt der bereits seit einigen Jahren anhaltende und sich stetig verschärfende Trend zu voluminöser, den Körper verhüllender und möglichst bequemer Kleidung. Unter Schlagworten wie »Streetstyle« oder »Athleisure« konnte sich ein globaler Modestil durchsetzen, der zudem einen demonstrativ informellen Charakter aufweist. Damit wird zugleich auf den für die jüngeren Generationen typische und auch auf den sozialen Netzwerken beobachtbaren Wegfall zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verwiesen.

In der Retrospektive fällt auf, dass der in den Neunziger Jahren aufgekommene Begriff des »Heroin-Chic« eigentlich auf einem Missverständnis beruhte. Tatsächlich war diese Dekade mit dem Triumph des Konsumkapitalismus und dem Aufkommen der Techno-Kultur, eher von stimulierenden Drogen geprägt.

Selbst als das Postergirl des »Heroin-Chic«, das britische Model Kate Moss, schließlich durch Paparazzi-Fotos des Drogenkonsums überführt werden konnte, handelte es sich bei der von ihr favorisierten Substanz um Kokain. Die von Moss zu dieser Zeit popularisierte Uniform aus hautengen »Skinny«-Jeans, Stiefeletten mit hohem Absätzen und schmal geschnittenen Blazern mit kantiger Schulterpartie, bildete gewissermaßen den somästhetischen Gegenpol zur aktuell vorherrschenden Oversize-, Athleisure- und Sneaker-Mode.

 

Das Ende der »depressiven« Silhouetten ist augenblicklich noch nicht absehbar. Möglicherweise liegt der Ausweg jedoch in den Mechanismen der Mode selbst, die sich trotz der von einigen Seiten geäußerten gegensätzlichen Einschätzungen, auch im Jahr 2019 noch als überaus lebendig erweisen. Dazu zählt, dass auf jeden Trend einen Gegentrend folgt und nichts die demonstrative Abkehr von vormals als subversiv oder provokant empfundenen Stilmitteln so schnell vorantreibt, wie deren Thematisierung in den Mainstream-Medien. So kündigt sich eine Übersättigung des Xanax-Trends auf der Plattform Instagram bereits an. Eine Lil Peep-Epigone, die ironischerweise den Künstlernamen Lil Xan trägt, gründete vor einigen Monaten unter dem Hashtag #nomorexans eine Anti-Xanax-Bewegung, die jungen Fans dabei helfen möchte, auf die Einnahme der Tabletten zu verzichten. Letztendlich trägt diese neuerliche Wendung dazu bei, die modische »Uninteressiertheit«, als deren popkulturelles Symbol die Xanax-Pille gelesen werden kann, selbst als Pose zu entlarven. Oder anders formuliert: wer noch ausreichend Interesse aufbringt, um im Internet etwa einen goldenen Kettenanhänger mit der Aufschrift »Depression« des kalifornischen Labels »Ban.Do« zu erwerben, den oder die dürfte die teuflische Krankheit noch nicht allzu tief in ihren Klauen haben.