Schönheitsoperationen
Eine neue Lippe ist wie ein neues Leben
Schönheitskorrekturen werden für viele Frauen immer selbstverständlicher. In Zeiten wie diesen kein Wunder. Was aber, wenn am Ende alle aussehen wie Beautycyborgs?
Plötzlich sieht man sie überall, an der Bushaltestelle, in der Supermarktschlange oder auf dem Nebenplatz an der Bar: junge Frauen mit trotzig vorgestülpter Oberlippe.Irgendetwas irritiert daran, scheint nicht ganz zu stimmen. Der betont beiläufig aus den Augenwinkeln geworfene Blick kehrt immer wieder an die Stelle zurück, bleibt förmlich daran hängen. Man möchte die Lippe fragen, was sie dort macht, in diesem Gesicht, wie sie da hingekommen ist. Bis einem plötzlich klar wird: Ach so! Für diese Lippe wurde Geld bezahlt. Sie wurde gemacht, aufgepumpt, hingespritzt. Mit Absicht. Das soll so.
Die Zahl der Schönheitseingriffe weltweit nimmt beständig zu, so auch hierzulande: Lag Deutschland im Jahr 2010 im internationalen Ranking der ISAPS (International Society of Aesthetic Plastic Surgery) mit rund 360.000 durchgeführten Behandlungen noch auf Platz elf, hatte es sich 2016 mit mehr als doppelt so vielen Eingriffen (rund 730.000) bereits auf Platz neun positioniert. Platz eins belegen die USA mit mehr als 4,2 Millionen Eingriffen. Und tendenziell werden die Zahlen auch weiterhin steigen.
Mehr als 80 Prozent aller Schönheitsoperationen werden an Frauen durchgeführt, was leider immer noch etwas darüber aussagt, wie stark weibliche Aufstiegsfantasien an das Erreichen bestimmter Oberflächenideale geknüpft sind. Zwar mag auch für Männer der Umgang mit dem eigenen Körper kein immerwährendes Festival der Ekstase mehr sein, aber hier gibt es zumindest keinen so deutlichen Trend zu mehr Operationen wie bei Frauen.
Warum lassen sich immer mehr Frauen, zunehmend auch jüngere, operieren? Lange Zeit wurde die plastische Chirurgieals bizarre Mesalliance zwischen Schönheitschirurgen und wohlhabenden Damen belächelt. Schönheitsoperationen galten als dekadenter Luxus und die Boulevardpresse inszenierte sie als Drama von Schuld und Sühne.
Mein Gesicht, mein Geld, meine Entscheidung
Doch das Image der Branche hat sich gewandelt, was auch an den neuen medizinischen Möglichkeiten liegt. Der Trend ging weg vom brutalen Handwerk des Knochenbrechens und Blutvergießens, hin zu minimalinvasiven Eingriffen, die schnelle Erfolgserlebnisse versprechen und keine Narben hinterlassen. Kliniken und sogenannte Beauty-Bars wenden sich mit niedrigschwelligen Angeboten an eine junge, hippe Kundschaft, die das Körpertuning als Statussymbol für sich entdeckt hat. Es sind Frauen zwischen 20 und 29 Jahren, die noch nichts konservieren müssen, sondern vor allem neugierig darauf sind, wie so eine neue Lippe ihnen steht. Aus Sicht der Schönheitsindustrie sind diese jungen Frauen, die noch ein ganzes Leben voller potenzieller Schönheitseingriffe vor sich haben, eine sehr interessante Zielgruppe. Zumal Schönheitseingriffe für diese Frauen kein Tabu mehr darstellen, sie vertreten den Standpunkt: mein Gesicht, mein Geld, meine Entscheidung.
Am beliebtesten sind neben dem Nervengift Botox sogenannte Filler, injizierbare Implantate auf Collagen- oder Hyaluronsäurebasis, die wie eine Spachtelmasse unter die Gesichtshaut gespritzt werden und für straffe Konturen, Apfelbäckchen und Schmollmünder sorgen. Nach ein paar Monaten muss nachgespritzt werden, sonst ist es schnell wieder vorbei. Ansonsten sehr beliebt: Augenlidkorrektur, Fettabsaugen, Brustvergrößern. Bei Männern auch: Brustverkleinern.
Immer schon waren es die Medien, das Kino und die Werbung, die unrealistische Vorstellungen von Körperbildern in die Köpfe ihrer Zuschauer und Zuschauerinnen pflanzten und diese dazu brachten, sich den Busen von Marilyn Monroe oder die Hüftknochen von Kate Moss zu wünschen. Heute sind es Instagram-Influencerinnen, die vormachen, dass der Körper als Investitionsobjekt nicht nur Aufmerksamkeit garantiert, sondern auch Geld bringen kann, wenn man genug hineingesteckt hat. Und sicherlich ist die plastische Chirurgie mittlerweile auch ein Teil jener Unterhaltungskunst, die daraus besteht, Spekulationen über Art und Kosten der Schönheitseingriffe zu befeuern. Man kann sagen, der Preis des neuen Hinterns einer Schauspielerin ist für viele interessanter als der Name ihres aktuellen Bettgefährten. Man kann aber auch sagen: Jede Zeit bekommt die Fratzen, die sie verdient.
So löst man sich im Spiegel auf
Ein berühmtes Beispiel für jene Art der Selbstvermarktung ist Kylie Jenner, 20, die laut Schätzungen von Forbes demnächst die jüngste Selfmademilliardärin der Welt sein wird. Mehr als 100 Millionen Menschen folgen der kleinen Schwester von Kim Kardashian auf Instagram. Sie sehen täglich, wie Kylie mit dem immer gleichen Gesichtsausdruck in die Kameralinse ihres Smartphones blickt, mal in Unterwäsche, mal in Jogginghose und bauchfreiem Top. Oft steht sie dabei vor dem Spiegel. Sieht man frühere Bilder von ihr, ist es fast unmöglich, in dem schmallippigen, sommersprossigen Teenager von einst und dem lasziven Vamp von heute ein und dieselbe Person zu erkennen. Zu sagen, Kylie habe ihr Aussehen optimiert, wäre zu kurz gegriffen. Sie hat sich in ihrem Aussehen aufgelöst, hinter den Spiegeln, und ist als neuer Mensch zurückgekommen, oder sagen wir besser als ein übermenschliches Kunstwesen, ein Avatar oder eine Comicfigur. Ihr neues Gesicht mit den überdimensionierten Lippen, wie man sie in Zukunft häufiger sehen wird, ist das Aushängeschild ihrer eigenen Lipglossmarke, die im vergangenen Jahr knapp 420 Millionen Dollar umgesetzt hat.
Menschen haben schon immer unvernünftige, ungesunde und verrückte Dinge mit ihren Körpern angestellt, um glanzvoller, bewundernswerter oder wichtiger auszusehen. Die Vorstellungen von Schönheit haben traditionell weniger mit Natürlichkeit zu tun als mit Macht und Reichtum. Prinzessinnen sind nicht nur im Märchen immer schön. Aber nicht weil sie so geboren wurden, sondern weil sie Zeit und Geld haben, mit Mode, Schmuck und Kosmetik nachzuhelfen. Ihr Aussehen ist Ausdruck ihrer sozialen Privilegierung
Triumph oder Niederlage?
Zu Zeiten des Absolutismus pferchte der europäische Adel seine Körper in voluminöse Gestelle aus Fischbein und Rosshaar, kleisterte die Haut mit einer Paste aus giftigem Bleiweiß zu und verbarg die Haare unter meterhohen Perücken. Dahinter steckte ein politisches Kalkül: Der Abstand vom Volk sollte auf den ersten Blick zu erkennen sein. Keiner sollte auf die revolutionäre Idee kommen, dass eigentlich alle Menschen gleich sind, widerwillig auf die Welt kommen, sie ebenso widerwillig wieder verlassen und dazwischen jeden Tag die Toilette benutzen müssen. Wer weiß, wie weit historische Narzissten wie Ludwig XIV., Marie-Antoinette oder Ludwig II. gegangen wären, hätten ihnen damals schon versierte plastische Chirurgen zur Seite gestanden?
Es ist kein Zufall, dass chirurgisch gestaltete Körper in einer Zeit an Popularität gewinnen, in der die Unterschiede zwischen Arm und Reich wieder extremer zu werden scheinen und soziale Abstiegsängste vielen den Schlaf rauben. Kulturkritiker prägten in den letzten Jahren den Begriff des Neobiedermeiers für eine zunehmend unpolitische bürgerliche Mitte, die sich in die Privatheit des Familienlebens zurückzieht. Die Mädchen von der Bushaltestelle, die ihr Geld für Lippeninjektionen sparen, sind jedoch schon einen Schritt weiter beziehungsweise weiter zurück: Sie stehen für ein neues Zeitalter des Postrokoko, in dem Privilegien wieder jenen Körpern erteilt werden, die sich auf möglichst überzeugende Weise in Wunschgebilde transformiert haben. Sie sind Beautycyborgs, die sich nach Belieben in eine Skulptur der eigenen imaginierten Bedeutung verwandelt können. Ob dieser neue Körper als Triumph oder Niederlage gesehen wird, liegt im Auge des Betrachters.
Es wird in der Zukunft neue Beautytechniken und Körpermoden geben, die wir uns heute noch nicht einmal vorstellen können. Der berühmte Satz der französischen Philosophen Albert Camus, dass jeder Mensch ab einem bestimmten Alter für sein Gesicht selbst verantwortlich sei, nimmt mit den steigenden Möglichkeiten der kosmetischen Industrie eine ganz neue Bedeutung an. Eigentlich passt es gut in unsere leistungsorientierte Zeit, wenn der Grad des Erreichens oder Verfehlens körperlicher Idealbilder nicht mehr auf naturgegebenen Unterschieden beruht, sondern auf Wille, Arbeit und Leidensbereitschaft.
Zeit Online, 26. Juli 2018